Fußball gehört in Deutschland dazu, wie das Ausfüllen umständlicher Formulare in Rathäusern oder das Feierabendbier in der ranzigen Kneipe. Da machte der Drosselweg keine Ausnahme. Fußball in allen Erscheinungsformen war und ist bis heute ein stetiger Begleiter des unwürdigen Schreibers dieser Zeilen.
Wie bereits mehrfach erwähnt, befanden sich zwischen den eintönigen Wohnhäusern jeweils Rasenflächen, die inzwischen mit kinderfeindlichen Büschen auf künstlichen Hügeln versehen wurden. Damals befanden sich die Halme zum Glück in einem barrierefreien Zustand, sodass eigentlich täglich gepöhlt wurde.
Der fürsorglichen Mamma sei Dank nannte ich immer den einen oder anderen Ball mein Eigen. Egal, ob Weihnachten, Geburtstag oder quengelnder Ausflug in die Stadt. Gelegenheiten, um an ein neues Spielgerät zu kommen, gab es genug. Die besten Pillen waren aber jene, die derartig abgewetzt waren, dass das ursprüngliche Design selbst mit Lupe nicht mehr zu erkennen war. Wie man das runde Kunstleder einsetzte, hing von unterschiedlichen Faktoren ab. Hier soll nun das Gepöhle mit meinem Cousin im Fokus des Flutlichts stehen.
Ich habe eine Kusine und zwei Kusengs (Cousin sieht für mich zu sehr nach einer französischen Vorspeise aus, weshalb ich die eingedeutschte Schreibweise bevorzuge). Mit dem älteren der Beiden verbrachte ich in meiner Kindheit und Jugend unfassbar viel Zeit. Teils schlief der lange Schlacks beinahe die gesamten Sommerferien bei uns, weshalb gemeinsames Pöhlen regelmäßig ein bestimmender Tagesordnungspunkt war. Gerne zogen wir uns die aus heutiger Sicht abscheulichen Polyestertrikots an, wenn es wie aus Eimern kübelte, nur um nach 10 Minuten mit 3 Kilo Matsche an der Kleidung wieder in die muckelig warme Bude zu gehen. Omma und Mamma tadelten uns zwar nicht selten, weil sie dieses Vorgehen aus nachvollziehbaren Gründen für zumindest fragwürdig hielten, kamen aber letztlich immer zu dem Schluss, dass wir ja schließlich eine Waschmaschine hätten. Da das Herumschleppen der klumpigen und nassen Erde äußerst kräftezehrend war, wurde in der Regel ein vitaminreiches Mahl aus der Fritteuse hergerichtet, damit man sich anschließend wieder umziehen konnte, um eine weitere Runde zu kicken.
Falls wir mal nur zu zweit waren, spielten wir gerne „Kommentator“. Einer rammte zwei Stöcker in den Boden. Penibel wurden dafür sieben Schritte abgemessen, denn bei nem Tor handelt es sich schließlich um ein genormtes Konstrukt. Anschließend verwandelten sich die Fenster und Balkone in die großen Arenen der Fußballwelt. Auf den VIP-Logen drehten die wichtigen Leute Wurst auf dem Holzkohlegrill, während wir uns aufführten wie vollkommen Bekloppte. „Herzlich willkommen im Bochumer Ruhrstadion, die Hütte ist voll und die Bayern sind zu Gast.“ Abwechselnd nahmen wir die jeweiligen Positionen ein. Der Feldspieler übernahm das Kommentieren des Geschehens.
„Dariusz Wosz treibt die Kugel durch das Mittelfeld der Bayern. Babbel an seinen Versen.“ Anschließend vollführte mein Cousin eine galante Körpertäuschung, durch die er am imaginären Markus Babbel vorbeidribbelte. Doch hat er die Rechnung nicht mit Wadenbeißer Jens Jeremies gemacht. „Von hinten rauscht der Münchener Abräumer heran.“ Mein Cousin hob ab, das Gesicht schmerzverzerrt und landete auf dem Grün des Ruhrstadions, wo er sich den Oberschenkel umgreifend krümmte. Daraufhin legte er sich dem Ball zum fälligen Freistoß zurecht, Jeremies beschwerte sich noch kurz über die überzogene gelbe Karte. Derweil stellte ich laut brüllend die fiktive Mauer. „Stefan (Effenberg, Anm. d. Schreiberlings), weiter nach links! Und hochspringen!“
Ähnlichen Spielsituationen gingen wir auch im Kinderzimmer nach. Dazu wurde einfach die Tür geöffnet, sodass der Flur als Fläche zur Verfügung stand. Dann die Matratze als „Tor“ vor die Heizung gestellt und schon fand der Hasseröder Premium Cup (ein Hallenturnier, damals im DSF zu sehen) im Drosselweg statt. Warum die Matratze vor der Heizung war? Nun ja, wir hatten mehrere Betten zerspielt bzw. durch akrobatische Flugeinlagen dermaßen geschrottet, dass zeitweise nur eine Matratze zur Verfügung stand.
Wenn Petrus einen verdammt schlechten Tag hatte oder der blendende Feuerball am Firmament verschwand, mussten wir uns mit der Ersatzdroge beschäftigen, die für 90 Prozent aller Amokläufe verantwortlich ist. Genau, ich meine Videospiele. Bevor die moderne Zeit fotorealistische Grafiken auf die Flachbildschirme der Kötten zauberte, mussten wir uns mit den pixeligen Vorgängern begnügen. Auf dem Super Nintendo zockten wir International Super Star Soccer Deluxe. Bei dem comicartigen Vergnügen konnte man bereits eigene Trikots entwerfen, die auf dem Röhrenfernseher aber wie halb verdaute Döner aussahen. Als dann die Playstation ihren Weg ins Kinderzimmer fand, rotierte die CD des Nachfolgers im Geiste (ISS Pro Evolution Soccer) im Laufwerk. Wir fingen den Karrieremodus mit einer Truppe aus namenlosen Talentfreiheiten auf 2 Beinen an, verstärkten den Kader bevorzugt mit schnellen Spielern (Michael Owen) und verbrachten ganze Nächte mit Gesprächen über Taktik und Neuzugänge. Gerne und ausgiebig traten wir auch in umkämpften Duellen gegeneinander an. Dabei wählten wir prinzipiell immer die längstmögliche Dauer für die jeweiligen Partien. Das waren damals 30 Minuten, in denen geflucht, gelobt, gelitten und gemeckert wurde.
Gelegentlich widmeten wir uns auch dem Bundesliga Manager, bei dem wir die Geschicke eines Vereins vor die Wand lenkten. Selbst als Deutscher Meister kam es dabei schonmal vor, dass man von den Verantwortlichen entlassen wurde. Am liebsten war mir eine fiktive Saison mit Eintracht Frankfurt, bei der wir zum Ende der Saison auf einem Abstiegsplatz gelandet waren. Wir hockten vor dem Bildschirm und brüllten frenetisch „Absteiger! Absteiger!“, während wir die Arme im Takt unseres Schmähgesangs bewegten.
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