Langweilig war uns in der Siedlung selten. Sicher, wir beschäftigten uns gerne mit den „Neuen Medien“, die unsere Seelen auf ewig in die Verdammnis hinabstürzten. Commodore, Amiga, Nintendos Kästen und die Playstations waren wahre Zeitfresser. An Bewegung mangelte es uns im Drosselweg dennoch nicht, denn wir trieben uns die meiste Zeit draußen herum. Es drehte sich aber nicht alles um Bälle oder Knarren, denn die Imagination von Blagen ist bekanntlich grenzenlos. Okay, das ist übertrieben, aber wir konnten uns schon ein bisschen was vorstellen.
Formel 1
Damals hatte Motorsport in Deutschland noch einen anderen Stellenwert, was auch für das behandschuhte Aufeinanderlosgehen und sich in die Fresse hauen galt. Da ist man mitten in der Nacht aufgestanden, um zu sehen, wie Henry Maske irgendeinen Typen vermöbelt. Oder man hat sich den Wecker auf 3 Uhr gestellt, damit man sehen konnte, wie Michael Schumacher mit ohrenbetäubendem Lärm über den Asphalt heizte. Über uns wohnte eine Familie mit italienischen Anteilen. Ehepaar mit 2 Jäustern. Der Ältere war im Alter meines Bruders, der Jüngere in meinem. Dementsprechend spielten wir viel zusammen.
Zwischen den Behausungen der Bewohner befanden sich Wege aus Betonplatten. Steigungen, Abhänge und enge Haarnadelkurven, mit denen man unterschiedliche Rennstrecken erstellen konnte. Die Möglichkeiten zum Überholen erinnerten an den Kurs von Monaco, doch hielt uns das nicht von ausgedehnten Duellen ab. Ich fuhr einen Silberpfeil aus dem Hause Kettler. Sehr gute Kurvenlage und ein recht kleiner Wendekreis. Mein Freund hingegen raste mit einem orangenen Modell, das eine Besonderheit aufwies, die mir noch heute einen Hauch gelben Neids ins Antlitz färbt. Denn sein Gefährt verfügte im Gegensatz zu meinem fahrbaren Untersatz über ein astreines Rennlenkrad. Schnittige Form und aufgeklebte Knöpfe zur Traktionskontrolle oder anderen Finessen.
Wir jagten um die Kurven, manchmal auch den Hügel vom Parkplatz hinab und hielten uns dabei fit, denn der Antrieb erfolgte über Pedale in Tradition der Familie Feuerstein.
Schnitzeljagd
Ein Klassiker. Mit Kreide konnte man immer viel anstellen. In der Schule wurde und wird das Potenzial des Kunstinstrumentes nur leidlich ausgeschöpft. In den Händen von Blagen entstehen mittels Kreide Kunstwerke aus variantenreichen Geschlechtsteilen, verzerrten Pokémon und anderweitigen Kreaturen.
Ein zeitloses Spiel stellte die sogenannte Schnitzeljagd dar. Eine hochkomplexe Aktivität, bei der Psychospielchen von großer Bedeutung waren. Jäger und Flüchtende wurden aufeinander losgelassen. Die Flüchtenden hinterließen mittels Pfeilen Spuren, die den Jägern als Indizien für den eingeschlagenen Weg dienten. Aber, um die Verfolger abzuschütteln, war es ratsam, falsche Fährten zu legen. Also Pfeil nach links und rechts, die nächsten Kreuzungen ebenfalls mit Hinweisen versehen und dann wieder zurück zur ersten Abzweigung, um den ursprünglichen Fluchtweg weiter zu verfolgen.
Das war meist ein eher kurzweiliges Vergnügen, denn die Siedlung war flächenmäßig recht begrenzt. Dennoch bewaffneten wir uns regelmäßig mit Kreide, um damit nicht Matheaufgaben zu lösen, sondern etwas Sinnvolles zu tun.
Haste einen an der Murmel?
Japp, welch grauenvolles Wortspiel, bei dem ich nicht einmal weiß, ob es überhaupt ein Wortspiel ist. Jeder kennt die kleinen, meisterhaft aus Glas geblasenen Kugeln. Wir nannten die Teile allerdings Knicker. Verkauft wurden sie meist in kleinen Netzen und verfügten über eine phänotypische (Googeln oder besser in Bio aufpassen!) Bandbreite, die vergeblich ihresgleichen suchte. Besonders beliebt waren die weißen Exemplare, auf denen bunte Punkte angebracht waren. Sie waren quasi die holographischen Pokémonkarten der Murmelwelt.
Wir spielten eigentlich immer am selben Ort. Am Rande des Parkplatzes befand sich ein langgezogener Hügel, auf dessen Fläche zwei Bäume standen. Darauf stellten wir in liebevoller Handarbeit Bahnen her, bohrten Löcher und legten los. Die Regeln waren einfach. Man musste die Knicker ins Loch bugsieren. Von der Startlinie aus wurden die Knicker geworfen. Danach durften sie nur noch geschnipst werden. Der Sieger erhielt die vom Gegner eingesetzte Kugel als Preis. Da die Spielgeräte in großen Mengen daherkamen, hatten wir immer genug Nachschub.
Klettern
Kinder klettern gerne. Die Eltern machen sich derweil Sorgen, dass die Blagen den Halt verlieren, abrutschen und im Rollstuhl landen. Im Gegensatz zu ausgewachsenen Menschen wissen die Halbwüchsigen aber meist, wo ihre Grenzen sind. Daher ist die Sorge in der Regel unbegründet.
Wir hatten zwar keinen Kletterpark in der Siedlung, aber es standen andere Gelegenheiten zur Verfügung. So gab es ausreichend viele Bäume, die sich zum Besteigen anboten. Einige Exemplare wurden naturgemäß bevorzugt, da sie vom Wuchs her leichtere Aufstiege ermöglichten. Davon abgesehen wurden Zäune erklommen, was durch die oben befindlichen Zacken manchmal etwas schmerzhaft war.
Am liebsten trieben wir uns allerdings auf den Garagen herum. Diese fungierten zwar zeitweise als Fußballtore, doch die jeweiligen Mieter sahen das ungern, weshalb wir das Beschießen der blechernen Tore irgendwann endgültig einstellten. Über die Zäune am Spielplatz oder per Räuberleiter gelangte man recht zügig in die erste Etage. Von dort hatte man eine erhabene Aussicht auf unsere Welt. Denn die Siedlung war gewissermaßen unser Reich, in dem wir Abenteuer erlebten, Niederlagen einsteckten und den Kopf wieder aus dem Sand zogen.
Rollenspiele
Nein, es geht hier nicht um Klempner, die (höhö) Rohre verlegen wollen, wo sie nicht hingehören. Schließlich waren wir unschuldige, brave und wohlerzogene Blagen und hatten noch einige Jahre ohne das penetrante Penetrieren vor uns. Rollenspiele sind was Urkindliches und da machten wir keine Ausnahme. In der konkreten Ausgestaltung konnte man allerdings einige Unterschiede zu den klassischen Variationen erkennen. Ich möchte einige Beispiele nennen, um dies zu verdeutlichen.
Und Action!
Wie ich in einem vergangenen Bericht bereits erwähnt habe, waren wir früher große Filmfreunde. Besuche in der Videothek gehörten zu den Highlights am Wochenende und auch im Fernsehen konnte man die Ära der wohl besten Actionfilme aller Zeiten erleben.
Van Damme, Arnie, Bruce Willis, Stallone ballerten alles über den Haufen, was sie nicht mit bloßen Händen oder gezielten Tritten kleinbekamen. Da lag es nahe, dass wir aus dem schnöden Spielplatz ein Filmset phantasierten.
Auf dem gefederten Motorrad flüchtete man vor korrupten Ordnungshütern, schrie wild fluchend, wenn eine Kugel das hölzerne Rad traf und sprang in feinster Stuntmanmanier von dem Gefährt herunter, rollte sich keuchend ab, um anschließend in den Sandkasten zu hechten, der für das Feuergefecht Deckung bot. Oder man fuhr mit dem Rad die Rutsche herunter, während man heroische Floskeln brabbelte. Früher stand noch ein höheres „Haus“ auf dem Spielplatz, dessen Dach man erklimmen konnte. Dies eignete sich zum Showdown der imaginären Blockbuster. Per gezieltem Schuss wurde der böse Bösewicht unschädlich gemacht, der dann spektakulär gen Boden fiel. Abschließend dürfte ein pseudolustiger Spruch wie „Hast wohl deinen Fallschirm vergessen.“ gefallen sein. Höhö gefallen. Tarantino wäre stolz auf uns gewesen.
Analoges Zocken
Daddeln, zocken, am Joystick rumspielen und virtuelle Abenteuer erleben war wichtig. Dank den zahlreichen Stunden ist die Begeisterung für die Mischung aus Unterhaltung und Kunst in mir gewachsen und gediehen. Einige Berichte zu dem Thema habe ich bereits in die Tasten der digitalen Schreibmaschine gekloppt.
Aber hier soll es ja eben nicht um das Hocken vor dem Röhrenfernseher gehen. Was wir mit den zeitlosen Streifen der 90er machten, galt ebenso für Videospiele. Besonders Resident Evil wurde nachgespielt. Einige torkelten als Zombies über den Spielplatz und ahmten die stöhnenden Geräusche ebenso authentisch nach, wie die Bewegungen. Aus meiner Sicht wäre jeder von uns ein ausgezeichneter Darsteller bei The Walking Dead geworden. Mit Plastikwummen wurden die Untoten niedergemäht, doch der eine oder andere Biss konnte nicht vermieden werden. Also humpelte man mit schmerzerfülltem Gesicht gen Ausgang, um vor der nimmersatten Meute zu fliehen. Bescheuert.
Und sonst so?!
Meine Erinnerungen trüben sich allmählich. Auch wenn ich einen Großteil des kindlichen, manchmal kindischen Spieltriebs über die Jahrzehnte retten konnte, wird man eben nicht jünger. Daher werden viele Aktivitäten sicher unverdient unerwähnt bleiben. Neben den geschilderten Spielereien haben wir natürlich auch die Klassiker zum Zeitvertreib genutzt. Fangen und Verstecken in allerlei Variationen gingen schließlich immer. So oder so, langweilig wurde es selten. Und wenn es dann doch mal zu öde wurde, konnte man immer noch rein und die Playstation anschmeißen.
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