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  • AutorenbildWerler Kötte

Die wichtigste Mahlzeit des Tages

Die deutsche Sprache ist gespickt von klugen Sprichwörtern, die man in seiner Kindheit für jeden noch so kleinen Quatsch um die Ohren gepfeffert bekommt. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Lügen haben kurze Beine. Wenn du einem Werler widersprichst, gibt’s was auf die Fresse.


Eine wirklich, wahrhaftig und äußerst weise Redensart ist hingegen Liebe geht durch den Magen. Die schnöde Aufnahme von Nahrungsmitteln löst beim Menschen mehr Emotionen aus als Bilder aus Bürgerkriegsgebieten oder der Anblick eines bettelnden Obdachlosen. Doch soll es hier nicht um irgendeine Form von Gesellschaftskritik gehen, das überlasse ich klugen Menschen, die gerne offene Briefe schreiben. Hier geht es bekanntlich um die Kindheit einer Kötte.


In einem teutonischen Haushalt ist die Herrin des Hauses für das leibliche Wohl zuständig, wobei Ausnahmen diese Regel lediglich bestätigen. Sowohl in meiner frühen Kindheit als auch in der aufkeimenden Pubertät ging ich vielen kräftezehrenden Beschäftigungen nach, die einen stetigen Nachschub an qualitativ hochwertigen Nährstoffen erforderten. Erna kümmerte sich immer vorbildlich darum, mich mit besagten Kalorien und Energielieferanten zu versorgen.

Gerne spielten wir hinter’m Haus, wo eine langgezogene Rasenfläche zu allerlei ballbezogenen Aktivitäten einlud. Auch wenn es uns mal auf den Spielplatz zog, wir auf einer Asphaltfläche Wimbledon abkreideten und dem gelben Filzball hinterherjagten oder in der gesamten Siedlung mit Plastikwummen umherzogen, stellte die Wiese hinter unserer Wohneinheit die Basis dar, zu der wir regelmäßig zurückkehrten. <<Können wir noch länger draußen bleiben?>> <<Wir brauchen ne Ballpumpe!>> <<Kann D. heute bei uns pennen?>> waren nur einige der Fragen, die wir in Richtung der Fenster und Balkone riefen.


Erna hatte in der Regel ein unglaubliches Gespür für körperliche Bedürfnisse ihrer Mitmenschen, bevor diese selbst auch nur den Hauch einer Ahnung ihrer Bedürftigkeit hatten. Im Sommer lehnte sie sich regelmäßig über die Brüstung und trommelte alle Blagen zusammen. Anfangs warf sie Wassereis (<<Hakan, möchtest du Kirsche oder Waldmeister?>>) mit der Präzision eines professionellen Baseballspielers. Als sich die erfrischungsbedürftigen Blagen zahlenmäßig in anderen Sphären bewegten, ließ sie einen kleinen Korb an einem Band hinab. Eis ging stets gut weg. Aber auch Schokoriegel verschiedenster zahnarztfreundlicher Zusammensetzungen fanden Abnehmer.


Erna im Kittel, ihrer allgegenwärtigen Uniform.


Ernas Kompetenzen beschränkten sich allerdings nicht auf das Verteilen von Süßigkeiten an Gott und die Welt. Gemeinsam mit ihr in einer Wohnung zu leben und nicht kugelrund zu werden, grenzte an ein Weltwunder. Ich erinnere mich gerne an die zahlreichen Übernachtungsgäste, die bereits am Morgen in den einzigartigen Genuss von Ernas Gastfreundschaft kamen. Selbst Unterkünfte, die sich eitrig gelbe Sterne über den Eingang kleben, könnten sich von ihr die eine oder andere Scheibe abschneiden. Beziehungsweise konnten, der Zug ist leider mittlerweile abgefahren.


Sobald man den neuen Tag nach durchzockter Nacht mit trüben Augen begrüßt hatte, wehte einem der unvergleichliche Duft von Knack und Back in die verkrustete Nase. Dabei spielte es keine Rolle, ob man früh aufstand oder etwas länger bei seinen Träumen verweilte. Ich frage mich noch heute, wie sie das bewerkstelligte. Schlich sie permanent durch die Wohnung und lauschte, wann sich was in den Zimmern tat? Lief der Backofen einfach ab 6 Uhr in dauerhafter Erwartung der kleinen Teiglinge? Oder produzierte sie einfach am Fließband Brötchen, die sie in der Nachbarschaft verteilte? Zuzutrauen wäre es ihr, doch das Geheimnis werde ich nicht mehr lüften.


Wie es sich geziemt, klopfte sie rücksichtsvoll an die Zimmertür und betrat dann die Räumlichkeiten, deren Geruch nichts für schwache Nerven war. <<Guten Morgen! Was möchtet ihr trinken?>> In ihrer rechten Hand balancierte sie ein rundes Tablett in roter Farbe, auf dessen Rand in weißen Lettern der Markenname eines zuckerhaltigen Erfrischungsgetränkes prangte, welches sich als Mischbeisatz von Korn und Rum eignet. Anschließend legte sie ein kleines, weißes Tischdeckchen auf das Bett und platzierte das Tablett auf das stilvolle Dekorationselement. Darauf waren liebevoll mehrere Teller, Besteck, Aufstrich, Aufschnitt und die dampfenden Brötchen platziert. Nach Aushändigung des Tabletts kümmerte sie sich um die Getränkebestellung. Einige nahmen Kakao, den ich bis zum heutigen Tag verabscheue, andere Wasser, die meisten irgendwas Zuckriges. Während des Essens lief dann Darkwing Duck auf der Mattscheibe oder Spiderman schwang sich durch New York. Man kann schlechter in den Tag starten.


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