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Salut und au revoir

  • Autorenbild: Werler Kötte
    Werler Kötte
  • 9. Juli
  • 7 Min. Lesezeit

Es war einmal… in Belgien

 

Kürzlich habe ich ein wenig aus dem Nähkästchen der Erinnerungen geplaudert und dabei das Scheinwerferlicht auf Philippe gerichtet. Weil es manchmal schön ist, sich die immer weiter wegliegenden Tage vor das innere Auge zu halten, geht es heute weiter. Ich kannte den Pornopaten leider nur aus der naiven und egozentrischen Perspektive eines Kindes bzw. Jugendlichen. Dennoch möchte ich noch einige der Erlebnisse, Situationen und Assoziationen mit allen Interessierten teilen.

 

Epikur lässt grüßen

 

Philippe war ein Lebemann und ein Genussmensch, der wiederum mit einem feinen Gaumen ausgestattet war. Für seine Gäste zauberte er regelmäßig mehrgängige Menüs in der professionell ausgestatteten Küche. Gemüsegedöns, Hummer, Curryhähnchen, ausgefeilte Desserts und ein feiner Tropfen aus dem gestaffelt klimatisierten Weinkeller. Beim Chinesen orderte er für mich Froschschenkel, die erstaunlich gut schmeckten. Regelmäßig ging es zu „Chez Duche“, wo fein diniert wurde. Einmal standen wir in dessen Küche und Philippe reichte mir einen kleinen Teller, von dem ich kosten sollte. Es schmeckte scheußlich. Als ich fragte, was das war, meinte er „cheval“ und wieherte lachend. Ihm war generell daran gelegen, dass ich meinen Horizont erweiterte, wobei dies leider nicht auf sonderlich fruchtbaren Boden fiel.

In der Küche fühlte er sich immer wohl.
In der Küche fühlte er sich immer wohl.

Allerdings war der Mann mit dem Bauch sich auch nicht zu schade für die einfachen Freuden des Lebens. Bei „Chez Raymond“ bestellte er üppige Portionen köstlicher Fritten, die das gesamte Tablett bedeckten. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die diese Berge auch vertilgen konnten. Deshalb, und weil Mentholzigaretten ihm ebenso schmeckten, musste er sich regelmäßig Spritzen setzen (Diabetesgedöns) und hatte Herzprobleme, die wiederum zu der einen oder anderen Not-Op führten.

 

Die Karte ist uralt, das Restaurant scheint es aber noch zu geben.
Die Karte ist uralt, das Restaurant scheint es aber noch zu geben.

Brumm Brumm

 

Männer lieben Autos. Das mag ein Klischee sein, aber eine gewisse Affinität zu röhrenden Motoren ist vielen Kerlen zu eigen. Philippe war da keine Ausnahme von der Regel. Der Cappuccino (roter Suzuki) lag ihm sehr am Herzen. Mit anderen Liebhabern nahm er an Touren durch Europa teil. Als er mich zu einem Ausflug in einige Kneipen mitnahm, benötigte ich durch den Fahrtwind kein Haarspray oder ähnliche Produkte. In den Spelunken bestellte er uns zahlreiche Frucht- und Starkbiere, genehmigte sich aber jeweils nur einen Schluck aus seinem Glas, weshalb ich nach kurzer Zeit ordentlich Schlagseite hatte.


Für eine Weile standen einige „Enten“ (also die Autos, du Heiopei) in der Auffahrt vor dem villengleichen Haus. Zu recht dürfte man jetzt anmerken, dass diese Fahrzeuge nicht unbedingt für Hochgeschwindigkeitsfahrten auf der linken Spur bekannt sind. Das mag sein, doch kommt es stets auf den Kontext an. Eines Tages durften Kuseng und ich es uns hinten bequem machen. Allerdings war die Rückbank ausgebaut, was wiederum zu vergleichsweise großer Beinfreiheit führte. Natürlich kann eine Ente nicht mit 180 durch die Gegend heizen, wenn sie nicht gerade massiv umgebaut wurde, ABER mit 80 Sachen über Kopfsteinpflaster geht durchaus. Die engen Gassen eigneten sich eigentlich nicht für eine derartig halsbrecherische Aktion, und Vorfahrtsregelungen oder anderweitige Verkehrsvorgaben fanden ebenfalls keine Berücksichtigung, doch habe ich mich in keiner Millisekunde unsicher gefühlt. Ich war schon immer gerne in Achterbahnen und genoss die Abwechslung, denn sonst waren Autofahrten ja eher geprägt vom hupenden Dahinschleichen.


Jedes Mal, wenn ich die Auffahrt zu einem Parkhaus befahre, denke ich automatisch (das meiste Denken geschieht automatisch, indes dürftet ihr wissen, was ich meine) an Philippe. Der Grund liegt nicht in wiederholten Erfahrungen, sondern lediglich an einem Erlebnis. Ich war alleine mit ihm unterwegs, was selten vorkam, weil ich Stuss eben nur auf Deutsch von mir geben kann und er kein Englisch beherrschte. Er fuhr ein Parkhaus hoch. Fahren ist nicht das passende Verb. Er flog? Raste? Gallopierte? Düste? Keine Ahnung, es war ein unfassbares Tempo und er bediente das Lenkrad entspannt mit wenigen Fingern, im Gesicht ein Ausdruck purer Seligkeit. Fliehkräfte wirkten auf meinen Körper, die keine Achterbahn jemals zustande gebracht hätte.

 

Geben gibt mehr als Nehmen

 

Ich hatte bereits ausgeführt, dass Philippe ein spendabler Mensch war. Seinem Sohn hat er Aufenthalte in England ermöglicht und J. war ein cleverer, aber fauler Kerl. So konnte er gut Zeugnisse und ähnliche Dinge fälschen. Einstweilen eröffnete er eine Videothek in Charleroi. Was ist eine Videothek?



Allerdings verkaufte er auch etliche Kopien von Filmen und Spielen, was mit etwas Weitblick nicht so durchdacht war, denn so beraubte er sich selbst der Kunden. Da ich früher (heute bleibt für sowas weniger Zeit) ein großer Film- und Videospielenthusiast war, hielt ich mich gerne zwischen den gut bestückten Regalen auf. J. besorgte mir Futter für Playstation und DVD-Player. Als ich ihm Wünsche mitteilen wollte, sagte ich „Spiderman“. Er runzelte die sonst so glatte Stirn. Nach Sekunden ratloser Stille jubelte er „Ahhh. Le Spiderman!“ Die Situation ist hängengeblieben, wobei der für mich witzige Teil im geschriebenen Wort natürlich verlorengeht. Wollte es dennoch erwähnt haben. Irgendwann geschah mit der Videothek, was mit allen einstigen Refugien geschah.


Belgien war für andere Länder Europas wie ein kleines Labor. Die großen Firmen probierten hier einige Produkte aus, bevor sie dann in Deutschland landeten. So kam ich vor meinen germanischen Genossen in den Genuss von Cola-Light Lemon, Vanilla Coke und auch Milka hat hier verschiedene Varianten schokolierter Zuckerbomben getestet, sodass ich Besuche von Supermärkten stets genoss.


Bereits vor über 20 Jahren bewaffnete sich Philippe mit einem Scangerät und stapfte mit mir durch „DelHaize“, wo er seine Einkäufe selbst scannte und teils als Wegzehrung für die Dauer des Einkaufs vertilgte. Ich muss nicht erwähnen, dass ich alles in den überfüllten Wagen werfen konnte, was ich wollte. So geht Erziehung! Und die Ausflüge zu Cora (riesiges Einkaufszentrum) und Ville2 (deux) hatten immer etwas von Abenteuer, denn viele der Dinge gab es bei uns eben nicht.


Philippe war ein Problemlöser, wie man ihn so wohl nur aus filmischen Werken kennen dürfte. Er kümmerte sich um seine Leute. Sicher glorifiziere ich ihn ein wenig und seine dunklen Seiten dürften ebenso mächtig ausgeprägt gewesen sein, aber auch ich habe üble Phantasien. Pfanddosen in den Mülleimer werfen, Papier in den gelben Sack stecken oder Duschgel für das Waschen von Haaren benutzen.

 

Philippe in Werl.
Philippe in Werl.

Hoher Besuch

 

Wie ich bereits erwähnt habe, lebt Philippe nicht mehr. Bevor ich genauer darauf zu sprechen komme, möchte ich allerdings noch ein für mich besonderes Ereignis aufs flimmernde Papier bringen. Ich habe vor Ewigkeiten die allgemeine Hochschulreife erlangt. Japp, ich bin ein klugscheißender Abiturient, der Beleidigungen in lateinischer Sprache kennt. Das ist per se (höhö) nichts Besonderes und ich bilde mir da tatsächlich nichts drauf ein, denn wichtig ist nicht der Schulabschluss, sondern dass man toll aussieht, was bei mir zweifellos der Fall ist. Jedenfalls war die Zeit mit Philippe immer auf die Aufenthalte in Belgien beschränkt. Zu meinem Abiball (auf dem ich u.a. zu Evergreens der Backstreet Boys auf der Bühne herumhampelte) nahm er die beschwerliche Fahrt nach Werl allerdings auf sich. Rückblickend bedeutet mir seine Anwesenheit mehr, als ich es damals hätte zu schätzen wissen können. Er war mit meinen Großeltern an der Möhnesee essen (Zitat Oppa „Philippe ist ein feiner Kerl.“) und trank Kaffee auf dem Marktplatz meiner Köttenstadt.

 

Fin

 

Bevor Du weiterliest, möchte ich darauf hinweisen, dass es im folgenden Abschnitt um das Thema „Suizid“ geht. Ich bin kein Fachmann, wenn man vom Schreiben ausufernder Texte absieht. Wer mit Depressionen zu tun hat oder wen Gedanken an Suizid, Selbstmord oder wie man es auch immer nennen möchte, begleiten, der sollte sich unbedingt mit entsprechenden Angeboten auseinandersetzen. Mit Vertrauenspersonen sprechen, psychologische oder ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Notfallnummern wählen und nicht alles mit sich selbst ausmachen. Hier gibt es einen Link, der einige Anlaufstellen zusammenfasst. Eine kurze Suche wird aber auch noch mehr Angebote ausspucken.



So, kommen wir nun zum unerfreulichen Teil. Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, wenngleich ich spontan nicht das Jahr im Kopf habe. Wir lebten noch im Drosselweg und das Telefon klingelte. Plötzlich hörte ich einen lauten Schrei, der so schmerzvoll in die Ohren drang, dass ich in die Küche rannte. Dort hockte meine Mutter auf dem Boden und war völlig aufgelöst.


Philippe versuchte, die Fassade lange aufrechtzuerhalten, aber er war depressiv. Soweit ich weiß, war er nicht in der dafür angemessenen Behandlung und die Lebensumstände veränderten sich ebenfalls. Der Laden lief nicht mehr so gut (starker Euphemismus) und die Probleme häuften sich. An einem Abend ist Philippe in den Garten gegangen, hat sich eine Schusswaffe an die Schläfe gesetzt und abgedrückt.


Es war ein Schock, wobei das Wort den Gefühlen nicht einmal ansatzweise gerecht werden kann. Tiefe Traurigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung und Wut wechselten sich ab. Warum? Was hätte man tun können? Fragen ohne Antworten. Nach den intensiven Gefühlen nur noch Leere.


Dann gab es die Beerdigung. Es war ein absoluter Scheißtag. Aber der Konvoi erinnerte an ein Staatsbegräbnis. Ein nicht enden wollender Strom an Autos fuhr über die Straßen. Kreuzungen wurden durch irgendwelche Leute blockiert, damit Philippe seine letzte Reise in gewohnter Geschwindigkeit absolvieren konnte. Der Verlust tut bis heute weh (fühle mich beim Schreiben solcher Worte egoistisch).

Damit schreibe ich mir auf, was ich beim Einkaufen vergessen möchte
Damit schreibe ich mir auf, was ich beim Einkaufen vergessen möchte

Was bleibt, wenn ein Mensch den Löffel abgibt, über den Jordan geht oder die letzte Reise antritt? Für den Tod gibt es viele Umschreibungen. Von pathetisch poetisch bis geschmacklos ist alles dabei. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ich denke nicht, wenngleich der Gedanke immer wieder etwas Versöhnliches hat. Schwirrt die Seele umher? Dann dürfte auf der Seelenstraße einiges an Verkehr sein. Es bleibt Schmerz, aber auch Erinnerungen. Ich habe das große Glück, dass ich einige Stücke von Philippe bei mir habe, die wiederum nicht weggeschlossen sind. Da ich gerne schreibe, habe ich Griffel von Dupont (mächtig dekadent), mit denen er Knebelverträge unterschrieben hat. Außerdem einen Fußball, auf den er sich ausufernd verewigt hat, einen Stetson und den Deerstalker, der Detektiv Relaxos Haupt ziert (auch bekannt als Sherlockmütze).

Wer kauft sich schon einen Deerstalker?
Wer kauft sich schon einen Deerstalker?

Es bleibt, dass ein wichtiger Mensch fehlt. Er kommt nicht zurück, aber so lange meine Rübe nicht zum Sieb mutiert, wird er zumindest nicht vergessen.

Machste nix!  

Aber wohin? 😉
Aber wohin? 😉

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