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  • AutorenbildWerler Kötte

Jahrestag

Aktualisiert: 27. Okt. 2023

Jahrestage sind was Schönes. Man schlüpft in den angestaubten Anzug, der seit der Kommunion für besondere Anlässe im Schrank vor sich hinvegetiert. Man geht mal wieder ausgiebig duschen und wäscht sich sogar die verbliebenen Haare auf der Rübe, klatscht anschließend ne Tube Haargel drauf und putzt sich auch mal wieder die Kauleiste. Ein Schwall Billigparfum rundet das adrette Äußere ab, sodass man das Jubiläum standesgemäß angehen kann. Standesgemäß heißt traditionell mit Fusel in Stimmung gebracht und zu abscheulicher Musik herumhopsend. Oder man setzt sich ins Stammlokal, wo man ne Fuhre Formfleisch vertilgt und mit Hauswein runterspült. Allerdings gibt es auch Jahrestage, die nicht direkt feuchtfröhliche Feierlaune verbreiten. So ein Tag ist heute. Daher mache ich mir es auf dem Sofa des krankenkassenschonenden Therapeuten bequem. Spätestens jetzt würde ich diese Seite verlassen und die gewohnten Titten- und Pimmelvideos konsumieren, denn das folgende Geschreibe wird triefend. Dahingestümperte Melancholie, pathetische Formulierungen und eine Prise Egoismus im Tarnmantel der Trauer. Soll sich nachher keiner beschweren…


Leben geht weiter…


Warum sitze ich jetzt überhaupt hier und schreibe? Es wird nichts ändern, dennoch muss ich dem Impuls folgen. Beim Durchstöbern der überfüllten Handygalerie fiel mein Blick auf das letzte Foto von Mama. Es ist kein schöner Anblick, sie ist nicht einmal mehr ein Schatten ihrer selbst. Etwa 12 Stunden nach der Aufnahme wird mein Handy klingeln und ich mit wässrigen Augen ins Auto steigen. Das versehentliche Wiederentdecken des Fotos ist der Hauptgrund für diesen Text. Da ich gedanklich eher im Dialog unterwegs bin, wird es jetzt vielleicht etwas sehr rührselig, aber es erleichtert das Tippen bis zu einem gewissen Maße.



Brief auf die andere Seite


Tach Mama,

wo soll ich anfangen? Möchte ich überhaupt anfangen? Das Wichtigste vielleicht gleich zu Beginn. Du fehlst. Aber das dürftest du wissen. Ein Jahr ist vergangen und an dieser Erkenntnis hat sich nichts geändert. Sie hat höchstens an Deutlichkeit gewonnen. In der Zeit nach deinem Tod habe ich viel Liebe und Wertschätzung erfahren. Das tat gut, tat weh und leider konnte und kann ich mich nicht in der Weise bei den guten und besten Menschen bedanken, wie es angemessen wäre. Im Gegenteil, mir fehlt Zeit, manchmal die Kraft und so müsste ich mich bei vielen Leuten dafür entschuldigen, so tief abgetaucht zu sein. Du weißt genau, um wen es geht. Familie, die Meute und Menschen, die dir nahestanden. Aber zum Glück hat man mit mir irgendwie immer mehr Verständnis und Nachsicht als mit anderen. Ist wohl dem Dasein als kleiner Bruder geschuldet, in welchem man lernt, sich gut zu verkaufen.


Wenn man nicht mehr gemeinsam nach vorne gucken kann, richtet sich der Blick zwangsläufig zurück. Daher habe ich angefangen, Erinnerungen, die noch nicht dem Fusel anheimgefallen sind, niederzuschreiben. Du hast sehr spät damit angefangen. Deine Aufzeichnungen konnte ich nur einmal lesen. Du weißt, dass ich nah am Wasser gebaut bin, und eine weitere Lektüre muss ich aus Selbstschutz auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft verschieben. Ich weiß, dass du die Seiten vor allem für mich gefüllt hast. Gedanken an deine Kindheit, Erlebnisse und der Einblick in deine damalige Gefühlswelt haben mich tief berührt. Je näher man dem Ende des Fragmentes kam, desto deutlicher wurde, wie viel Anstrengung dich das Schreiben gekostet haben muss. Es wirkt beinahe so, als hättest du um jedes Wort gerungen, mit dem Füller gekämpft. Vielleicht kann ich es deshalb gerade nicht noch einmal lesen. Man sieht halt, in welchem Zustand du warst. Allein die Tatsache, dass du trotzdem so viel geschrieben hast, zeigt, was für ein unnormal starker Mensch du warst.


Ich versuche, so viele Erinnerungen wie möglich durch das Schreiben zu konservieren. Das geht andere Menschen eigentlich einen Scheißdreck an (wie Oppa gesacht hätte), aber wer Interesse dran hat, kann es sich ja zu Gemüte führen.


Ein Schatz auf Fotopapier


Meine Galerie auf dem Handy quillt über. Aufnahmen von wilden Sperrmüllbergen, Aufklebern und anderen Motiven aus Werl finden sich halbwegs sortiert auf der Speicherkarte. Zuhause hüte ich einen anderen Schatz. Schon Omma und Oppa waren immer fleißig am Knipsen. Dein Gesicht erkennt man sofort wieder und ich stöbere gerne in den zahllosen Photos (ja, mit „PH“, sind schließlich alte Werke). Den Spruch habe ich Torsten Sträter geklaut. Aber auch nicht wirklich, weil er dafür Mikrophon benutzt hat… Ich schweife ab. Kennste ja.


Erna im obligatorischen Kittel und ich weiß, von wem ich die Albernheiten habe...

Die Tradition hast du fortgesetzt. Bilder ohne Ende. Da du den Auslöser meist betätigt hast, sind vor allem Brüderchen und ich zu sehen. Aber auch die anderen Familienmitglieder und Freunde. Leider bist du nur selten abgelichtet, doch auf den wenigen Abzügen sehe ich eine besondere Frau. In den wenigen Momenten, die mir zur Verfügung stehen, versuche ich die Fotos zu sortieren und sie in digitaler Form gegen den Zahn der Zeit zu wappnen. Allerdings bin ich nicht immer in Stimmung dafür. Es ist eben eine wunderschöne Qual.


Deine Gesichtszüge sind unverkennbar

Im Zeitraffer sehe ich mich durch deine Augen. Als kleiner Flitzer nackt durch die Bude rennend. Im Oliver Kahn Trikot auf den Ascheplätzen des Kreises. Mit Cousin im Schnee. Die Urlaube in Spanien, Frankreich und Holland. Die vielen Fahrten nach Belgien. Beinahe jedes Bild ist mit konkreten Erinnerungen, Anekdoten und einem sentimentalen Schwall an Gefühlen verbunden. Für diesen Schatz bin ich unendlich dankbar.


Sammelwahn?


Du hast nicht nur Fotos aufbewahrt. Wenn man zwei Jäuster hat, bekommt man im Laufe der Jahre viel Firlefanz geschenkt. Und du hast einfach alles aufgehoben. Alles. Kleine Basteleien, Gedichte, Karten, Kalender und dahingestümperte Kunstwerke. Du hast die Freude über diese „Kleinigkeiten“ nicht vorgespielt. Die Brocken waren dir wichtig und dementsprechend hast du sie behandelt. Das gilt auch für andere Memorabilien. Dein altes Poesiealbum aus deiner Grundschulzeit, die Menükarte deiner Hochzeit und viel Kram, den andere Menschen irgendwann achtlos entsorgt hätten. Ich versuche, möglichst gut mit den Sachen umzugehen. Versprochen.


Das erste Jahr


Ein Jahr ohne dich. Allein das Tippen dieser Worte brennt in den Augen. Ich mag den Werler Friedhof. Habe ihn schon immer gemocht. Mittlerweile ist er aber ein Ort, an dem ich emotional schwanke. Bilder von den zu zahlreichen Beerdigungen blitzen auf, kleine Szenen spielen sich im Oberstübchen ab. Der regelmäßige Gang zu dir tut gut, hat aber kaum was von seiner Belastung verloren. Omma, Oppa und Tina leisten dir Gesellschaft und doch wandert mein Blick zuerst immer zu dir. Zu der Medaille, zu dem Stein aus der Manufaktur deiner Enkeltochter. Kürzlich gab es noch Zuwachs aus der gefiederten Tierwelt. Inzwischen bewahre ich mehr die Fassung, meist füllen sich die Glubscher aber schon auf dem Weg.


Die Grabpflege lag dir sehr am Herzen. Mit viel Liebe, großem Aufwand und dem Auge für die Details hast du dich um alles gekümmert. Ich kann mich noch sehr gut an das letzte Mal erinnern, an dem du Zweige entfernt und neue Blumen platziert hast. Du konntest kaum gehen, wolltest aber keine Hilfe. „Ich weiß nicht, ob ich es nochmal hierhin schaffe.“, meintest du zu mir. Vielleicht hast du dich verabschiedet oder dein baldiges Erscheinen angekündigt. Ich weiß es nicht, aber dieser letzte gemeinsame Besuch war wie so Vieles. Schrecklich und schön. Ich kann mich nicht so um das Grab kümmern wie du. Versuche es auch gar nicht erst. Aber ich gebe mir Mühe, bin regelmäßig da. Selbst, wenn es nur für einen kurzen Gruß und eine Zigarette reicht.


Ich habe ja schon geschrieben, dass du fehlst. Dennoch bist du überall und nirgendwo. Es gibt Lieder, die viel gelaufen sind, während ich zu dir ins Hospiz gefahren bin. Wenn Spotify die mal wieder in die Playlist spült, kommen Bilder von dir hoch, spielen sich Szenen ab, die ich eher mit deinem Verlust verbinde. Und ja, es ist egoistisch, es so zu sehen, aber du fehlst mir eben. Ich konnte mich mit niemandem so nervig fetzen wie mit dir, aber ich vermisse dich.


Musik hilft. Ich schwanke oft zwischen „will da jetzt überhaupt nicht dran denken“ und „will mich so genau wie möglich an alles erinnern“. Eine Zeit lang habe ich mir ausgiebig The Doors angehört, UB40 wurde auch rausgekramt und für Oppa mal den einen oder anderen Song von Elvis. Allerdings sind es nicht nur diese Lieder. Du warst mit mir auf meinem ersten Konzert, obwohl am nächsten Tag Schule war. Gentleman im FZW… Im Auto lief oft „Leave us alone“, allerdings war dein Lieblingslied des Pastorensohns „Jah Jah never fail“. Da auf den unzähligen Autofahrten immer Musik lief, verbindet mein Oberstübchen Mukke eben oft mit dir. Es waren ja nicht nur Konzerte, Festivals und Royal Fire Partys mit dir an der Kasse. Könnte jetzt wieder in die Erinnerungen abtauchen, aber das spare ich mir für andere Momente.


Bei Gentleman hinter der Bühne. Danke!

Bei Nosliw im Getümmel.

Leider hat unsere letzte gemeinsame Phase viel geprägt. Aus unterschiedlichen Gründen war ich öfters an einigen der Stationen. In der Nähe des Krankenhauses, bei der ambulanten Chemo, in der Nähe der Intensivstation, auf der du nach deinem Anfall warst. Bei der Begleitung eines Kindergeburtstages habe ich in der Straße geparkt, die zum Hospiz führt. Ich möchte nicht zu sehr jammern. Das würdest du nicht wollen, könnte man in schlecht geschriebenen Romanen lesen. Doch ich weiß nicht, was du wollen würdest. Das weißt du selbst am besten. Ich mache weiter. Du bist nicht mehr da, deine Spuren bleiben aber sichtbar. Und wenn es nur die beiden Klugscheißer sind, die du auf Werl losgelassen hast.


Bis gleich


Ich könnte noch so viel schreiben. Unzählige Erinnerungen, Gedanken, Sentimentales. Ich habe noch viele Fragen, doch die müssen warten. Wahrscheinlich werden sie unbeantwortet bleiben. Ich mache auf jeden Fall weiter. Wenn ich Luft habe, schreibe ich, dazu hast du mich immer ermuntert und von Anfang an hast du meinen gewöhnungsbedürftigen Humor verstanden. Woran das wohl liegt? :D Gleich speichere ich das Brieflein ab und statte dir mal einen kleinen Besuch ab. Bringe dir und euch ein paar Kerzen mit. Das mache ich zu selten, aber weil ich weiß, wie sehr du es gehasst hast, wenn Leute nur zu Allerheiligen oder den Todestagen was am Grab gemacht haben, werde ich sicher die Tage noch mal nach dem Rechten sehen. Sorry für den Bandwurmsatz, aber du kennst mich, bin eben ein Klugscheißer. Also, bis gleich!

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