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  • AutorenbildWerler Kötte

Knarren

Das Leben spielte sich in meiner Kindheit überall ab. Wir zockten in den Kinderzimmern an den neuesten Konsolen, deren Grafik heutzutage häufig imitiert wird, um einen ungewöhnlichen Charme zu erzeugen. Wenn Petrus keinen Katastrophentag hatte, hielten wir uns aber den Großteil der Zeit draußen auf. Wenn einem mal nicht die Originalität unter den innovativen Beschäftigungen einfiel, wurde eben „Knarren“ gespielt. Genau, Knarren, nicht „mit“ Knarren. Jäuster entwickeln häufig schon früh eine Art von Faszination für Schießeisen. Da machte ich keine Ausnahme. Cowboy und Indianer war bei uns ebenso kein Begriff, wie Räuber und Gendarm. Wir spielten eben Knarren.


Zu diesem Zweck verfügte jeder Bengel über irgendwelche, aus Plastik gefertigte Wummen. In meinem Zimmer lagerte ein Arsenal, auf das Reichsbürger bitterlich neidisch wären. Die P99 (bekannt aus den Dokumentationen über James Bond) lag herausragend in der Hand und sah schon recht echt aus. Abgesehen von goldenen Schriftzügen, die es als Spielzeug identifizierbar machten. Daneben die üblichen Revolver, Maschinengewehre, Uzis und Repetierer. Besonders geliebt habe ich die kurzläufige Schrotflinte, denn sie erinnerte mich an Resident Evil 2 :D


Wir trafen uns meist bei uns hinterm Haus. Oder an einem der Bäume, die an der Grenze des Parkplatzes standen. Rückblickend hatte es etwas von den Online-Ego Shootern. Die langgezogene Rasenfläche war die Lobby. Nach dem Einfinden wurden Teams gebildet, Waffenausstattung gewählt und dann wurde drauflosgeballert. Zwar lagen uns keine schriftlichen Trefferquoten vor, aber jeder wusste genau, wie der Spielstand war.

 


Selbst in der Bude wurde geballert. Hier anscheinend zu Weihnachten...

Paintball ohne Kugeln

 

Die Teams (jagende Spezialeinheit vs. gaunerische Ganoven) wurden gelegentlich gewählt. Dafür wurde die heilige Zeremonie des Pisspotts abgehalten. Zwar dürfte der Ablauf jedem geläufig sein, aber einen unwissenden Deppen gibt es bekanntlich immer. Zwei Alphatiere setzten abwechselnd einen Fuß vor den anderen (bündig) und bewegten sich dabei aufeinander zu. Wer am Ende dem Gegenüber auf den Spann steigt, ist der glorreiche Sieger. Natürlich ohne Regelanpassungen (seitwärts abbiegen oder andere unwürdige Vorgehensweisen). Bei anderen Gelegenheiten ergaben sich die jeweiligen Truppen von selbst.


Die Arena bestand aus der gesamten Siedlung mit klar gezogenen Grenzen, die pflichtbewusster beachtet wurden als Hinweise der Parentalgeneration zu Uhrzeiten, an denen man zuhause sein musste. Die Banditen machten sich vom Acker, während die „Guten“ brav bis 10 zählten. Anschließend wurde die Verfolgung aufgenommen.


Man schlich um Ecken, hielt das Gewehr, als ob man zum Eingreiftrupp des KSK (allerdings ohne faschistischen Hintergrund) gehören würde. Die zu Jagenden verschanzten sich überall in der Siedlung, in der jeder tiefgründige Actionknaller mit Van Damme, Stallone und Schwarzenegger hätte spielen können. Jedenfalls, wenn man über die schier grenzenlose Phantasie echter Köttenkinder verfügte. Orte, um zu lauern (campen) gab es in Hülle und Dings. Unter den Balkonen der Erdgeschosswohnungen war man relativ gut vor neugierigen Blicken geschützt. Wenn man nichts gegen die Gesellschaft allerlei Getieres hatte, konnte man es sich auch in einem der zahlreichen Gebüsche gemütlich machen. Die von Holzpfählen umschlossene Abstellfläche für die eisernen Mülltonnen war ebenfalls ein beliebtes Versteck.


Die Jäger sprachen sich ab, gaben unverständliche Handzeichen und tauschten sich über ihre Fortschritte aus. „Am Flachdach ist niemand.“ Mit Argusaugen spähten sie in die entlegenen Ecken. Plötzlich ertönten mit dem Mund erzeugte Schussgeräusche, die ich unter Zuhilfenahme von Buchstaben nicht annähernd imitieren könnte. Es steckte viel Liebe in der auditiven Untermalung. Man konnte mit geschlossenen Augen unterscheiden, ob der Bösewicht mit dem Revolver oder dem Gewehr im Anschlag ballerte. Bei der Schrotflinte wurde gar auf das Geräusch des Nachladens geachtet. Im Gegensatz zu schmerzhaften Treffern aus der Paintballwumme, taten die spuckend vorgetragenen Salven aus den Spielzeugwaffen nicht weh.

 

Getroffen?

 

Einen Nachteil hat das kindisch kindliche Geballer aber dennoch. Bei Schüssen aus Paintballpistolen werden Treffer durch farbliche Kleckse und blaue Flecke an schlecht gepolsterten Regionen kenntlich gemacht. Bei unserem Spektakel war das nicht so einfach.

„Ich hab zuerst geschossen.“ „Von da hättest du mich doch nie erwischen können!“ Und ähnliche Aussagen wurden gelegentlich in vorwurfsvoller und rechthaberischer Weise vorgetragen. In der Regel lagen die Indizien für die Beurteilung der jeweiligen Gefechte allerdings auf der Hand, sodass das spielerische Morden meist friedlich ablief. Welch kontrastreiche Formulierung!  


Ein Jaust hatte eine imposante Erscheinung. Ja, er hatte ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, jedenfalls, wenn man einen idealen BMI als Grundlage der Bewertung nahm. Aber er war auch ein Hüne. Da er, wie jedes Kind mit halbwegs vorhandenem Filmgeschmack, Police Academy mochte, spielte er für sich immer die Rolle des Tackleberry (einfach googeln oder youtuben). So bevorzugte er dicke Handfeuerwaffen und imitierte in der Tonlage und Wortwahl den waffenverrückten Choleriker. Es war einfach sehr amüsant mit ihm.


Beim spielerischen Ballern ging es nicht nur um das Gewinnen oder Verlieren der jeweiligen Gruppen. Wir hatten Spaß am gemeinsamen Rumtoben. Manchmal verschanzte ich mich in einem gut zu erklimmenden Baum in der Nähe des Flachdachs. Von da aus mähte ich meine blutrünstigen Kontrahenten reihenweise über den Haufen. Als ich einmal überrascht wurde, weil ich die Lernfähigkeit der Anderen unterschätzt hatte, stürzte ich mich nach dem virtuellen Treffer schreiend vom Ast und starb unter Wehklagen auf dem Rasen neben einem Haufen Hundescheiße. Welch poetischer Heldentod...

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