Musik, Lala, Geträller. Der rauschende Klang aus den Boxen war schon immer von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wobei die Geschmäcker bekanntlich verschieden sind. Die Bandbreite an Genres, die mir um die unschuldigen Ohren geballert wurde, ist rückblickend gar nicht mehr zu rekonstruieren.
Welche Musik lief, war wiederum von vielen Faktoren abhängig. Um wenigstens den Anschein von Struktur zu erwecken, bietet sich ein personengebundenes Vorgehen an.
Mamma:
Zwar hat Mamma den Führerschein erst knapp vor meiner Einschulung im Eilverfahren erworben, doch im Laufe ihrer aktiven Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr mehr Kilometer abgerissen als so mancher Brummifahrer. Das ist natürlich Quatsch, aber sie ist halt echt viel gefahren. Das Auto ist nicht nur Ort von pöbelnden Hasstiraden, über die Sau, die über Rot gefahren ist, sondern auch ein Club auf 4 Reifen. Anfangs liefen noch gekaufte oder selbst überspielte Kassetten in der Anlage. Später stieg die DJane dann auf moderne CD’s um.
Mammas Musikgeschmack war nicht leicht einzugrenzen. Beziehungsweise grenzte es an ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Beschallung bot einen kunterbunten Mix, der keinen richtigen roten Faden aufwies. Ist das nicht eine infame Unterstellung? Nein. Auf gar keinen Fall. Also tauchen wir in die wirre Playlist meiner Mutter ein.
Das mutmaßlich Peinlichste sollte an erster Stelle genannt werden. Schlager. Viel Schlager. Allerdings mag ich Schlagermusik bis heute. Also nicht unbedingt das Zeug, was den volltrunkenen Mallebesuchern in die Gehörgänge geschleudert wird (dafür benötige ich auch alkoholische Unterstützung), aber Wolle Petry ist Kulturgut. Das dürfte als Axiom (einfach Google fragen) durchgehen. Daneben liefen Brunner und Brunner (2 einfältige Brüder), Pur und auch mal die Kastelruther Spatzen. Ja, wirklich zum Fremdschämen, allerdings tummelten sich bei allen Gestalten auch einige Lieder herum, die selbst heute noch halbwegs erträglich erscheinen.
Zum Glück wurden meine zarten Hörorgane nicht ausschließlich mit deutschem Liedgut befeuert. Ich erinnere mich noch gerne an unseren Spanienurlaub, der mit einer über 20stündigen Fahrt inklusive Übernachtung verbunden war. Während der Reise trällerten die BeeGees mit ihren übertrieben hohen Stimmen irgendwas von „Alone“. Dieser Titel nahm den Platz als Ohrwurm der Autofahrt ein. Text und Melodie haben sich dermaßen tief in die neuronale Abteilung festgebrannt, dass ich wohl noch auf dem Sterbebett mitsingen könnte, wobei ich dies aufgrund der absurden Tonlage wahrscheinlich unterlassen werde. Außer ich möchte die Anwesenden noch ein letztes Mal richtig nerven.
Sehr prägend gestaltete sich das Wirken des Rockstars und Drogentesters Jim Morrison, der als Leadsinger von The Doors Poesie, eingängige Melodien und schieren Wahnsinn miteinander verknüpfte. Bereits als halbwüchsiges Köttenkind brüllte ich bei „Break on through to the other side“, „Alabama Song“ oder „Riders on the storm“ lauthals mit. Auch diese Truppe verirrt sich gelegentlich in meine aktuellen Playlists.
Am meisten wurde ich jedoch mit sogenannter Reggae-Musik konfrontiert, dem Off-Beat-Kifferzeugs, das Leute hören, die sich nicht die Haare waschen. Bob Marley dürfte jedem ein Begriff sein. Allerdings spielten die Kassetten nicht nur Songs ab, die jeder Dorftrottel kennt. Beres Hammond, Alpha Blondy, UB40 und weitere Vertreter der gediegenen Entspannungsmusik wechselten sich ab. Dies beeinflusste mein großes Brüderchen auch, wovon an anderer Stelle ausführlicher geschrieben werden wird.
Mamma war noch jung, als sie Mutter geworden ist. Das brachte viele Vorteile mit sich. Zum einen lag ihre eigene Jugend nicht in nebulöser Ferne, weshalb sie in einigen Situationen deutlich geduldiger wirkte. Zum anderen ermöglichte dieser Umstand in Kombination mit ihren eigenen Vorlieben gewisse Erfahrungen, die man nicht unbedingt mit der Parentalgeneration in Verbindung bringt. Ich dürfte knapp 13 Jahre gewesen sein, als ich im Dortmunder FZW mein erstes Konzert besuchen durfte. Es war mitten in der Woche, denn am nächsten Tag wurde ein Test in Religion geschrieben. Prioritäten setzen lernt man im Leben auf jeden Fall früh. Mamma fuhr mit meinem Kuseng und mir los, da Gentleman in seiner noch etwas wilderen Frühphase in kleinerem Rahmen auftrat. Während Sie weiter im Hintergrund in der ersten Etage das Gehopse verfolgte, konnten die Jungspunde das Gefühl von Freiheit genießen. Wir sprangen, brüllten, versuchten uns ohne Erfolg rhythmisch zur Musik zu bewegen und bei „Leave us alone“ rammte Kusengchen seinen Schädel unter meinen Kiefer. Somit hatte ich immerhin am nächsten Tag noch leichte Schmerzen als Erinnerung an den Tag. Der Test müsste eine 2 gewesen sein, wie fast jeder Relitest.
Mit Konzerten war das Thema Musik aber noch lange nicht zu Ende. Denn mit 14 ging es auch schon auf das erste Festival. Summerjam am Fühlinger See. Doch pennte ich nicht im Beisein von Mücken und anderem Gekröse in einem wackligen Zelt, sondern direkt auf der Insel im Auto. Bequem, ruhig und erholt konnte ich somit die Auftritte genießen. Bei Gentleman stand ich gar hinter der Bühne und genoss den Ausblick auf die tanzenden Menschenmassen. Die Festivalbesuche müssen in einem gesonderten Werk gewürdigt werden. Auch wenn es manchmal merkwürdig wirkte, dass Mamma mit im Biergarten saß oder auch mal an einem Joint zog, war es eine Nähe, die man so nicht unbedingt erwarten konnte und die ich mit einigem Abstand erst richtig zu schätzen weiß.
Oppa:
Musik war für Oppa das Salz in einer faden Suppe. Ganz früher stand im Wohnzimmer eine getürmte Anlage, die vermutlich ein kleines Vermögen gekostet haben dürfte, falls er sie nicht bei einem seiner früheren Einbrüche kostengünstig hat mitgehen lassen. Ja, Oppa war mal im Knast, aber darum geht es ja hier nicht. Diese Anlage konnte alles, was zu jener Zeit notwendig und möglich war. Kassetten, CD’s und Platten wurden an das Biest verfüttert. Selbstverständlich empfing man auch Radio damit, das war allerdings die einzige Funktion, die wohl niemals genutzt wurde.
Oppas Haupt erschien für viele Menschen unnatürlich, denn ein graues Haar suchte man vergeblich. Ein Pakt mit dem Teufel? Gute Gene? Für mich war die Sache klar. Er schmierte sich ständig Brisk auf die Rübe, was von der Konsistenz an eine Schuhcreme erinnerte. Das dürfte jegliche Graufärbung verhindert haben. Was hat das jetzt mit Musik zu tun? Nun ja, Oppa erinnerte in seinem Aussehen an Elvis Presley mit Schnauzbart. Dementsprechend liebte er den amerikanischen Superstar. Wenn er gut gelaunt war oder nicht zu viel aus der Whiskeyflasche getrunken hatte, schwang er das Tanzbein. Im Wohnzimmer zeigte Oppa dann einen Hüftschwung, der definitiv als bühnentauglich zu bewerten war. Krawatte um die Birne gebunden und er wirkte wie ein Rockstar, der gerade seine Gitarre zertrümmert hatte.
Allerdings haute er nicht nur auf die Kacke, denn er war ein beinahe klischeehafter Vertreter seines Geschlechts. Die schroffe, gesellige, teils aggressiv scheinende Art verbarg lediglich einen umso sensibleren Kern. Sobald Heintje mit seiner glasklaren Stimme aus den Boxen drang, wurde er weich. Gelegentlich kamen ihm bei bestimmten Liedern die Tränen. Allgemein bei Balladen. Als Kind wunderte ich mich naturgemäß darüber und machte mir irgendwie auch Sorgen. Inzwischen weiß ich natürlich, dass Musik mehr Emotionen auslösen kann als alle Schnulzen in Dauerschleife.
Normalerweise lief abends die Glotze im Wohnzimmer. Erna plante anhand der obligatorischen Fernsehzeitung das Unterhaltungsprogramm, wobei sie dies mit Oppa abstimmte. Manchmal hatte er aber einfach keine Lust auf irgendeinen Krimi oder eine austauschbare Show. Dann meckerte er nach jedem Vorschlag. <<Die Wichsbirne kann ich mir heute nicht ziehen.>> Denn er wollte einfach Musik hören. Statt einen Kompromiss zu erwägen oder sein Bedürfnis zu äußern, tat er es, wie man es als richtiger Kerl nun einmal bevorzugte. Er moserte über alles, was ihm nicht in den Kram passte, ohne den eigentlichen Wunsch zu äußern. <<Dann guck doch deinen Scheiß!>> Erna war sich unterdessen selbstverständlich darüber bewusst, dass ihr geliebter Gatte etwas Musik hören wollte. Doch aus etwas Musik konnte auch mal ein ausgedehnter Abend werden, den sie selbst lieber beim Mitraten oder Miträtseln verbrachte. Manchmal gewährte sie Oppa dennoch ein paar Lieder, die er dann gedankenverloren genoss oder inbrünstig mitsingend verbrachte. Dennoch verfehlte der gute Bourbon gelegentlich nicht seine Wirkung, sodass die Bedienung des technischen Meisterwerks Oppa an die Grenzen seiner Fähigkeiten brachte. <<Ich schmeiß das Ding gleich vor die Wand!>> war ein immer wiederkehrender Ausdruck, der auch in Bezug auf Videorekorder oder den Premiere-Kasten (Bundesliga gucken) verwendet wurde.
Erna:
Omma wirkte auf den ersten und auch den zweiten Blick nicht wie eine handelsübliche Partymaus. Ich kann mich im Gegensatz zu meinem großen Brüderchen nur an ein einziges Mal erinnern, wo sie auch Alkohol getrunken hatte. Das war irgendwo auswärts in einer Gaststätte. Bei der Gelegenheit war sie laut, wies eine rötliche Gesichtsfärbung auf und hatte allgemein richtig Spaß inne Backen. Zuhause war sie vor allem die Herrscherin über das TV Programm. Zwar bediente Oppa ungelenk die Fernbedienung, aber die Zeitschrift mit dem geheimen Wissen um die jeweiligen Sendungen befand sich in ihren Händen.
Früher liefen noch deutlich mehr Musiksendungen, die Erna dann auch zur Auswahl stellte. Hitparade war eines dieser Events, bei dem der Zuschauer Radio gucken konnte. Omma mochte Schlagermusik. Marianne Rosenberg zum Beispiel. Wenn sie richtig gute Laune hatte, sang sie mit. Dabei verfehlte sie zwischendurch absichtlich die Töne um mehrere Kilometer und beschallte dann mit ihrem ansteckenden Lachen das ganze Wohnzimmer. Bei englischsprachigen Liedern verstand sie nur Bahnhof, trällerte dennoch mit. Es erinnerte an eine Kandidatin von DSDS, die mit Kopfhörern vor der Jury auftrat. Im Gegensatz zum verhinderten Superstar konnte sie über sich selbst lachen und nahm sich nicht ernst.
Bruder (Eule):
Mein großes Brüderchen hörte natürlich auch Musik. Dabei durchlief er verschiedene Phasen, die ich in ihrer exakten Chronologie zwar nicht mehr zusammengestellt bekomme, aber auf einen unvollständigen Versuch lasse ich es mal ankommen. Unabhängig der eventuell mangelhaften Präzision muss ich eingestehen, dass alle Phasen durch Ernsthaftigkeit und Hingabe geprägt waren.
Was für viele heranwachsende Einwohner des ordnungsverliebten Deutschlands gilt, galt ebenso für ihn. Wie lehnt man sich gegen das spießige System auf? Polizeiautos anzünden? Mit Sprühdosen auf Züge klettern? Nein, man hörte Punk. Die Sammlung im großbrüderlichen Zimmer konnte sich sehen lassen. Vor allem befand sich so gut wie jede Erscheinung der besten Band der Welt in seinem säuberlich sortierten Regal. Auch ich mag viele Chansons des Trios, dessen Humor mir bereits als Kind ein Lächeln ins noch faltenfreie Gesicht zauberte.
Später dröhnten massige Beats durch seine Boxen, denn auf systemkritisches Gebrüll folgte Hip-Hop. Wu-Tang Motherfucker, Notorious B.I.G und Tupac wechselten sich am Mic ab. Kleidungstechnisch griff mein Bruder dementsprechend auch nach anderen Textilien, die sich durch weite Schnitte auszeichneten. Neben den Superstars aus Übersee durften die deutschsprachigen Größen nicht fehlen. Samy Deluxe, Eimsbusch und wie die ganzen Virtuosen so hießen, spitteten Reime und erfüllten das Zimmer mit poetischen Klängen.
Irgendwann reichte es nicht mehr, Lieder auswendig zu können, während man nickte. Nach und nach transformierte er sich. Aus einem passiven Konsumenten wurde ein aktiver Passionist. Zunächst stieg er vom Hip-Hop (den er aber bis heute noch schätzt) auf Reggae im weitesten Sinne um. Erweitert wurde das Spektrum über die Jahre um Dancehall und Soca. Zunächst stand er im Zimmer vor Plattenspielern, machte ein Praktikum bei einem Geschäft für professionelles Equipment, half als Rowdie beim Aufbau von Bühnen und lernte dadurch immer mehr über das Veranstalten von tanzorientierten Veranstaltungen. Zusammen mit Freunden gründete er schließlich ein sogenanntes Soundsystem. Anfangs war es vor allem der erweiterte Freundeskreis und die Köttenstadt, die er mit seinem Hobby unterhielt. Inzwischen tingelt er Wochenende für Wochenende durch Clubs, heizt Meuten auf Festivals ein und weiß, wie man Leute auf die Tanzfläche bekommt.
Ich:
Das Beste kommt bekanntlich zum Schluss. Musik ist wichtig und mein Geschmack hat sich über die Jahre naturgemäß gewandelt. Der Einfluss der genannten Personen ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Eigentlich kann ich allen Musikrichtungen in irgendeiner Art etwas abgewinnen. Und wenn es nur einzelne Interpreten oder Titel sind.
In der Grundschule hatte ich einen Lieblingspullover, auf dem die Mitglieder der Backstreet Boys abgebildet waren. Noch immer lausche ich gelegentlich den schnulzigen Klängen von Brian, Nick und Co., kenne die meisten Lieder in- und auswendig. Da meine Mutter zeitweise mit einem englischsprachigen Kerl Leben und Bett teilte, kam ich bereits früh mit der sogenannten Weltsprache in Kontakt, verstand die Texte der omnipräsenten Popsongs und mochte sie trotzdem. The Calling, mit dem androgynen Alex Band als Frontsänger, gefiel mir ebenfalls sehr. Ja, ich weiß, sehr schlimm.
Im Walkman liefen die Mixtapes meines Bruders, während ich mit dem Rad fuhr. Später als der Discman (komisch, dass es immer Männer sind) ins Spiel kam, drehten sich CD’s von Mono und Nikitaman, Gentleman und Nosliw in der tragbaren Diskothek. Sobald ich alt genug für Partys war, besuchte ich etliche Veranstaltungen meines Bruders, der im Bahnhof, dem Schießheim, aber auch außerhalb Platten auflegte und die Meute zum Schwitzen brachte. Gitarrenlastiges Geschrei mag ich allerdings auch. Bei Musik kommt es eben auf viele Faktoren an. Ist man unter der Dusche, fährt man im Köttenmobil durch die Gegend, passen gerade melancholische Töne oder ist es Zeit für Coco Jambo? Für alles und jeden gibt es das Passende. Das durfte ich bereits früh im Drosselweg lernen.
Comments