Rainer saß am kargen Frühstückstisch, Aufbackbrötchen, Billigmargarine und seit gestern abgelaufener Aufschnitt zierten das klassische Möbelstück aus dem skandinavischen Einrichtungshaus. Der lösliche Kaffee schmeckte wie erwartet und konnte es nicht einmal mit der Brühe aufnehmen, die man an Bahnhofsautomaten ergattern konnte. Rauschend berichtete der Moderator des Hellweg-Radios über Blitzer auf der Strecke zwischen Werl und Soest. Rainer fuhr schon seit Jahren kein Auto mehr, das war einfach nicht mehr drin.
Früher hatte er gutes Geld verdient, jedenfalls, was man so als gutes Geld bezeichnete. Er verputzte Häuser von gut betuchten Bonzen, später schraubte er bei Kettler Geräte für reichere Fitnessfreaks zusammen und zum Schluss grub er Gärten von gut situierten Eigenheimbesitzern um. Neben einem Auskommen, das ihm den einen oder anderen Urlaub ermöglichte, konnte er sich die 60 Quadratmeter Luxusbude in Innenstadtnähe leisten. Nun hockte er in etwas beengteren Verhältnissen im Norden der Stadt. Die Siedlung hörte auf den Namen Gartenstadt. Sie hätten es auch Paradies, Eichelkäse oder Zur kübelnden Kötte nennen können, was nichts daran geändert hätte, dass es sich um eine runtergekommene Ansammlung von Transferleistungsbeziehern handelte, die ein tristes Dasein am Bodensatz der Gesellschaft führten.
Das Geld, das monatlich von Vater Staat überwiesen wurde, langte weder vorne noch hinten. Unter irgendeiner Brücke wäre er vielleicht einer der besser gestellten Obdachlosen gewesen, aber mit Dach übern Kopf gestaltete sich der Alltag weniger prachtvoll. Obwohl er immer arbeitete, in die löchrige Rentenkasse einzahlte und nie über seine begrenzten Verhältnisse lebte, stand er mit 52 Jahren vor einem Scherbenhaufen. Lebenslanges Malochen für Menschen mit massig Moneten haben ihre Spuren hinterlassen. Der Rücken war im Arsch, ein künstliches Hüftgelenk wurde ihm eingesetzt und Schmerzen gehörten zum Alltag wie das permanente Jonglieren mit dem dürftigen Budget.
Doch Rainer bemitleidete sich nicht. Jeden Morgen zog er sich dem Wetter entsprechend an und ging arbeiten, denn lamentieren würde an der Situation nichts ändern. Täglich füllte er eine verblichene Plastiktüte mit Pfandgut. Erst wenn der Beutel, mit der Sonnenblume des ehemaligen „Ihr Platz“ bis oben hin voll war, machte er Schluss. An guten Tagen war mal ein Feierabendbier drin, was in letzter Zeit aber eher die Ausnahme darstellte.
Vor dem Mehrfamilienhaus stand mal wieder ein Container, in dem sich schimmeliger Sperrmüll stapelte. Rainer knöpfte sich sein Hemd zu und ging an dem überdimensionierten Mülleimer vorbei. Die Sonne strahlte ihm ins stoppelige Gesicht, er schloss die Augen in auskostend genießerischer Weise und rutschte beinahe aus. <<Kehr!>> Unter der Sohle seiner durchgelatschten Treter breitete sich eine hellbraune Masse aus, kroch in das verbliebene Profil und stank fürchterlich. Rainer zog die Sohle über den mit Tau bedeckten Rasen, der im Gegensatz zum Bürgersteig frei von Tretminen war. Es lohnte nicht, sich großartig aufzuregen, das war eine der wichtigsten Lektionen, die Rainer verinnerlicht hatte. Er folgte seiner üblichen Route, die zunächst in Richtung Bahnhof verlief.
Vor der Unterführung standen einige Container für Glas und Altkleider, die meist mit Unrat allerlei Machart vollgestopft waren. Dennoch schaute Rainer kurz nach und erblickte neben Scherben eine Dose, die jedoch zertreten wurde. Also weiter. Beim Passieren der Unterführung wurde er fast von einem Radler umgenietet, der anscheinend mit der Nutzung des roten Streifens überfordert war. Plastiktüten tänzelten im Fahrtwind des morgendlichen Berufsverkehrs. An der Stadthalle durchsuchte er die Mülltonnen. Kippenschachteln, Kondome, geleerte Schnapspullen und Verpackungen von salzigen Snacks versprachen einen längeren Arbeitstag.
Anschließend ging es in die Fußgängerzone. Morgens noch weniger frequentiert als im Nachmittagsbereich, brachte er dieses Areal gerne früh hinter sich. Das Gefühl von Scham hatte mit der Zeit nachgelassen, doch ganz verschwinden wollte es nie. Die Blicke der Leute, die sich überteuerte Scheiße kaufen konnten, um sie nach wenigen Monaten wieder wegzuwerfen, bohrten sich in seinen Nacken. Gelegentlich kam es vor, dass er für einen Obdachlosen gehalten wurde. Dann wollten sie Kleingeld und ihr schlechtes Gewissen loswerden. Er lehnte immer dankend ab. Sollten Sie es doch den wirklichen Obdachlosen geben, er selbst würde für sein Geld arbeiten.
Vor der alten Apotheke endlich der erste Erfolg. Eine Colaflasche. Am Boden noch ein Rest Zuckerwasser, in dem eine Kippe schwamm. Die Abfallbehälter waren von der Konstruktionsweise leider eher ungeeignet für Rainers Tätigkeit. Das grün lackierte Dächlein erlaubte oftmals nur halbe Blindflüge in orthopädisch unvorteilhafter Körperhaltung. Auf Arbeitshandschuhe verzichtete Rainer dennoch. Kleinere Schrammen gehörten dazu und zeugten von Fleiß. Er leerte den Fund und ließ 15 Cent in die Tüte fallen. Ein brötchenkauender Schüler beobachtete ihn von den Treppen der Wallfahrtsbasilika, schaute aber schnell zur Seite als sich die Blicke trafen. Scham auf beiden Seiten.
Früher hatte er gerne sein Mittagessen auf den Treppen zu sich genommen, früher hatte er die Einführung von Dosenpfand als lächerlich empfunden, heute war jede Dose ein kleiner Triumph. Am Imbissstand bereitete Maria ihren Grill vor und grüßte freundlich. <<Guten Morgen Rainer!>> Er nickte. <<Wünsch dir viel Erfolg, komm doch nachher mal vorbei.>> Sie war schon immer eine willkommene Abwechslung. Ihre guten Taten dienten nicht der Beruhigung des geplagten Gewissens, sondern kamen vom Herzen. Sie hatte selbst nicht viel.
Gegenüber vom Drogeriemarkt mit den 2 Buchstaben fingerte Rainer eine nur leicht verbeulte Dose aus dem Abfall. Mit sanftem Druck brachte er sie wieder in Form und das ehemalige Behältnis für übermüdete Teenager gesellte sich zur Cola. Auf der hölzernen Bank gegenüber der geschlossenen Spielothek fütterte eine ältere Dame ihren Handtaschenköter mit Leckerlis und versuchte intensiv woanders hinzugucken.
Nun ging es für Rainer in den Kurpark, das Naherholungsgebiet der Stadt. Hier wurde gesoffen, gekifft, Müll neben die Eimer geworfen, aber auch gespielt, Sport getrieben und entspannt. Ein Ort voller Widersprüche. Den Spielplatz mied er, denn die rauchenden Eltern sahen nicht gerne, wie ihre pöbelnden Blagen mit der Realität konfrontiert wurden. An der alten Saline, in deren Ablauf gerne Zigarettenschachteln und kleine Schnapsflaschen entsorgt wurden, konnte er die Inhalte der Gitterkörbe ohne viel Aufwand erkennen. Einige weitere Flaschen fanden so ihren Weg in die Tüte. Der Rücken machte sich nun zum ersten Mal bemerkbar, immerhin blieb die Hüfte stumm. Als er an 2 Jugendlichen vorbeiging, die auf einer Bank saßen, eine Freistunde genossen oder sich eine Auszeit vom Unterricht gönnten, rechnete er mit den üblichen Blicken oder abfälligen Bemerkungen. Das Mädchen trank hektisch aus der neongrünen Dose und rief: <<Entschuldigung. Können Sie die gebrauchen?>> Sie reichte ihm die frisch geleerte Dose. Rainer dankte überrascht und zog weiter zum Schulzentrum.
In den Büschen fand er neben Wäscheständern und Kotbeuteln auch einige brauchbare Dosen. Beim Angeln in dem Behälter am Parkplatz drangen Rufe zu ihm. Rainer verstand nur die Fetzen Penner, Opfer, ekelhaft und abschließend ein herzhaftes Verpiss dich! Der Ursprung der liebevollen Anfeuerungen stand am tiefergelegten Auto einer süddeutschen Firma. Passend zum universal hässlichen Weiß der Karre, war der Prolet auch in eine weiße Steppjacke gekleidet und wollte anscheinend seiner Begleitung imponieren, die ihr Make-Up wohl mit der Kelle aufgetragen hatte. Es gab Tage, da hätte Rainer am liebsten mit diesen Menschen gesprochen, diskutiert oder ihnen einfach die Fresse poliert, aber er beließ es beim bewährten Ignorieren und verließ die Szenerie.
Die Ausbeute stellte ihn halbwegs zufrieden, und die Reaktionen der Einwohner beschränkten sich zumindest auf verbale Nettigkeiten. Im letzten Monat wurde er mit halbvollen Bierdosen beworfen, was ihn emotional so beschäftigt hatte, dass die Tüte für eine Woche Urlaub bekam. Im Sportpark entdeckte Rainer noch kümmerliche Bierpullen und eine kleine Flasche Sprite. Überschlagend betrug der Erlös nun um die 4-5 Euro, was reichen musste.
In der Fußgängerzone stattete er Maria einen Besuch ab. Die Mantaplatte mit Bier sprengte eigentlich das Budget. Allerdings verlangte Maria wie immer nur 2 Euro statt 4,50, weshalb das Stück Normalität überhaupt erst realisierbar war.
Zuhause wärmte Rainer eine Dose Ravioli auf, machte es sich auf dem antik wirkenden Sessel bequem und ließ sich vom Röhrenfernseher berieseln, der ihn durch alle Widrigkeiten begleitet hatte. Morgen würde er wieder losziehen und im Müll wühlen, auf der Suche.
Wir müssen nicht viel, aber die Schonung von Rainers Rücken ist ohne viel Aufwand zu erreichen. Pfand ist Liebe und gehört daneben!
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