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  • AutorenbildWerler Kötte

Stein'sche Buchhandlung

Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.

-Franz Kafka- Typ, der schreiben und lesen konnte


Leute mit Büchern sind pedantische Klugscheißer.

-Werler Kötte- Straßenphilosoph und Kornsommelier


Das Lesen von Druckwerken ist in etwa so cool wie das Wort cool. Es beschränkt sich im Alltag auf sehr spezifische Situationen. Man blättert durch den TEDi-Prospekt, bevor er im gelben Sack landet. Man blättert im Wartezimmer vom Hausarzt in den erdachten Lebensgeschichten der Prominenten. Man überfliegt die fettgedruckten Zeilen eines Inkassobüros und sucht sich schleunigst eine neue Bleibe.


Allerdings gibt es auch noch andere Menschen. Menschen, die sich für was Besseres halten. Menschen, die etwas in der Zeit hängengeblieben sind und ihre aufgedunsenen Nasen in sogenannte Bücher stecken. Sie sind vom alten Schlag. Kennen den Unterschied zwischen das und dass. Wissen, was ein Faxgerät ist, verfügen über ein sogenanntes Festnetztelefon und denken bei Fraktur nicht an gebrochene Knochen.


Wenn diese Leute Nachschub für ihr staubiges Regal brauchen, bestellen sie nicht etwa bei Amazon, sondern mühen sich in die Fußgängerzone, wo es noch eines der wenigen Traditionsunternehmen Werls zu bestaunen gibt. Also fingern wir die Lesebrille von Woolworth aus der quietschenden Schublade und statten der Stein’schen Buchhandlung einen Besuch ab. Es lohnt sich.


Zeitreise


Bekanntlich ist uns der Bildungsauftrag sehr wichtig. Daher müssen wir in eine Zeit reisen, in der die Erdbewohner auf TikTok, Dieter Bohlen und Astro TV verzichten mussten. Das mag zwar schwer vorstellbar sein, aber die Wurzeln der Buchhandlung reichen weit, sehr weit zurück.


Obgleich es im Werl des 17. Jahrhunderts schon einige Buchsammlungen gab, waren diese vor allem in den Klöstern und kirchlichen Gemeinden konzentriert. Im Kapuzinerkloster (Gründung 1645) waren über 300 Werke, vor allem religiösen Hintergrunds gelagert und traten 1834 ihre Reise nach Münster an. Die Bedeutung des gedruckten Wortes war eher zu vernachlässigen, wenn man bedenkt, dass der Wert jener Sammlung auf Grundlage des Papiergewichts bemessen wurde. Andere Faktoren standen für den Bürgermeister für das Altpapier nicht zur Debatte. Die Propsteikirche verfügte (und verfügt) ebenfalls über eine stattliche Sammlung. Amüsante Randnotiz. Einige in der Sammlung enthaltenen Bücher wurden einst aus der Wedinghausener Bibliothek entliehen und nicht wieder zurückgegeben. Ich spare mir jetzt den naheliegenden Witz mit den fälligen Säumnisgebühren. Davon abgesehen gab es vor allem einige Privatbibliotheken, die mit wenigen Ausnahmen oftmals von den Nachkommen vertickt wurden.


Die ersten Buchbinder ließen sich im 16. Jahrhundert in Werl nieder und waren vor allem für Osterzettel, Trauerschriften und anderen religiösen Firlefanz verantwortlich. Die eigentliche Geschichte um die Stein'sche Buchhandlung nimmt ihren Anfang im Jahr 1713, als Philipp Stein, Sohn eines Würzburger Buchbinders nach Werl zieht, wo er 1717 das Bürgerrecht erhielt. Seine Nachfahren machten dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts Nägel mit Köpfen. Nachdem sie die polizeiliche Erlaubnis erhielten, eröffneten Raymund und Anton Stein 1843 die Buchhandlung. Anfänglich war das Interesse der Werler Bürger eher gering, sodass vor allem Schulbücher und geistliche Werke in den Umlauf gebracht wurden. Neben diesen Produkten konnte man damals sogar Haarwuchsmittel und Messer in der Buchhandlung erwerben. Die Steins wussten demnach, was es mit Diversifikation auf sich hatte und orientierten sich an der Nachfrage.


Zwei Bände für eine Köttenstadt.

Anton Stein war ein umtriebiger Bursche mit viel Unternehmergeist. So rief er auch eine der ersten Lokalzeitungen ins Leben. "Der Freimüthige" erschien unter dem Motto "Wer nicht vorrangeht, der geht zurück". Moment mal, wer nicht vorangeht, kann ja auch einfach stehenbleiben, um die Postkutsche vorbeisausen zu lassen. Allerdings steckte hinter dem Motto mehr als nur eine leere Phrase Mit der Zeit wurde die Berichterstattung immer kritischer (u.a. wurde die preußische Justiz ins Fadenkreuz genommen), was zu Sanktionen, Strafen und letztlich auch der Einstellung des Blattes führte.


Doch Anton Stein konnte es nicht bleiben lassen und trat in der Folge in Zusammenarbeit mit seinem Bruder (Raymund betrieb eine Druckerei) als Verleger in Erscheinung. Neben Schulbüchern, Heimatwerken und Ratgebern für Haus und Hof, arbeitete er auch an der Veröffentlichung verschiedener Zeitungen mit. Wer mehr erfahren möchte, dem sei die Lektüre des zweibändigen Schinkens "Werl- Geschichte einer westfälischen Stadt" empfohlen.

Bevor wir uns wieder der Gegenwart widmen, sollte noch erwähnt werden, dass die Stein'sche die zweitälteste noch existierende Buchhandlung Westfalens ist, was wir hiermit erledigt haben.


Shoppen im Wandel


Die meisten der digital natives werden wissen, wo der arbeitnehmerfreundliche Nachhaltigkeitsgigant Amazon seinen Ursprung hat. Bekanntlich begann der verständnisvolle Versandhändler sein Geschäft nicht mit dem Verschicken von Kopfhörern, Katzenfutter, Kostümen, Kartenspielen, Krims-Krams und anderem Kokolores, sondern startete mit der Zusendung von Büchern. Folgerichtig wurde im Zuge des Wachstums der Kindle populär, welcher die unhandlichen und nach totem Baum riechenden Druckwerke auf ein tabletähnliches Gerät beförderte und dem schnöden, langweiligen Lesen einen hippen Anstrich gab. Da viele Menschen trotz der Tücken von Windows, Android und Datenschutzproblemen auf das bequeme Bestellen im Internetz umstiegen, hatten viele kleine Buchhändler mit argen Schwierigkeiten zu kämpfen.


Wer geht schon freiwillig in die Fußgängerzone, wenn er auch von der durchgesessenen Couch aus nach Digital-Detox Lektüre, fesselnden Erotikromanen oder pseudophilosophischen Papperlapapp von Precht stöbern kann? Ebenso sind die schwerfälligen Beratungen durch einen echten Menschen nicht gerade von Vorteil, wenn die Alternative so viel zuverlässiger ist.


Schließlich kann der unfehlbare Algorithmus mit jeder Neigung und Vorliebe etwas anfangen. Kunden, die "Harry Potter und der Stein des Anstoßes" kauften, interessierten sich auch für "Fifty Shades of Unterdrückungsphantastereien". Hirn ausschalten und kontoleerend drauflos klicken. Davon abgesehen reichen die Kundenbewertungen, die mehr Rechtschreibfehler als der Soester Anzeiger aufweisen, für die letztliche Kaufentscheidung vollkommen aus.


Schon immer einen Besuch wert.

Obwohl viele Einzelhändler, die ihr Geschäft mit Büchern und anderem Streberzeug machten, nach und nach ihre Läden schließen mussten, gibt es noch einige Gallier auf dem umkämpften Markt. Hier sind jetzt explizit nicht die franchiseartigen Thalias (da weiß ja auch kein Mensch, wie man es auszusprechen hat) und Meyersches gemeint, die ihre überdimensionierten Areale in den gehobeneren Fußgängerzonen mit Diätratgebern und Reiseführern vollstopfen. Bei der ganzen Chose hier geht es ja nun einmal um Werl und bevor Thalia in Werl einen Laden eröffnet, bekommen wir ein Outlet-Center.


Tradition


Trotz der genannten Umstände kann man als lesebefähigter Werler noch immer die Stein'sche Buchhandlung aufsuchen. In der Regel befinden sich 2-3 aufmerksame Mitarbeiterinnen in den übersichtlichen Räumlichkeiten. Im Erdgeschoss sind einige Inseln in Form von Tischen zu finden, auf denen sich thematisch sortierte Werke befinden. Meist ein Stapel mit blutrünstigen Thrillern, Liebesromanen und anderweitigen Gattungen. Ebenso kann man Postkarten, Firlefanz, wie Lesezeichen, Buchstopper und kleine Taschen für den Buchtransport erwerben.


Wenn man an die großen Ketten denkt, hat man bereits die weiten Flure vor Augen, in denen man einen kleinen Marathon auf der Suche nach dem passenden Werk absolvieren kann. In der Stein'schen Buchhandlung sind die Wege kurz und die Auswahl ist übersichtlich in den Regalen zu finden. Die Bestsellerliste gehört natürlich zur ersten Anlaufstelle des orientierungslosen Lesers. Danach gibt es noch Biographien, Krimis, historische Romane und viele weitere Leseleckereien.


Wie es sich gehört, wird selbstverständlich auch an die kleinen Köttenkinder gedacht. So gibt es eine reichhaltige Auswahl an Werken, die zum Vorlesen geeignet sind, denn bekanntlich können Blagen meist erst nach dem Ablegen der Abiturprüfung leidlich Buchstaben interpretieren. Für den Fall, dass die Eltern keine Lust auf Vorlesen haben sollten, gibt es in der Stein’schen auch sogenannte „Tonies“. Zum Verständnis. Das sind Hörspielkassetten bzw. CD's in außergewöhnlicher Machart. Statt sein abgehalftertes Abspielgerät zu entstauben, sind Tonies kleine themenorientierte Figuren, aus denen dann wie von Zauberhand die Geschichten dröhnen. Eigentlich nicht mehr als überteuerte Bluetooth-Boxen mit der Möglichkeit zur Verbindung mit anderen technischen Spirenzchen.


Für die Teeniekötten gibt es die standardmäßigen Romane um glitzernde Vampire und son Quatsch. Kleinere Leseproben liegen an verschiedenen Stellen aus, wenn man sich nicht so gerne von den Mitarbeitern beraten lassen möchte. Kontakt zu Menschen, besonders in Werl, stellt ja grundsätzlich ein Risiko dar.


Archimedes aus "Die Hexe und der Zauberer"


Flankiert von Werls Maskottchen- Mülltonnen

Wer lesen kann, kann eventuell auch schreiben


Viele Menschen, die des Lesens mächtig sind, beherrschen ebenfalls die nutzlose Kunst des Schreibens. Auch für diese Sonderlinge hält die Stein'sche Buchhandlung eine gesonderte Abteilung parat. Um dieses Reich zu erreichen, muss man lediglich die leicht geschwungene Treppe in die erste Etage erklimmen. Dort warten allerlei Artikel des alltäglichen und besonderen Schreibbedarfs auf den kundigen Kunden. Marmoriertes, handgeschwurbeltes Briefpapier für den schmachtenden Schreiberling. Feine Füllfederhalter für den künstlerischen Kalligraphen. Tintentöpfe für den Farbfetischisten.


Doch nicht nur Nachschub für den ausgewachsenen Schreibwütigen kann man in den reichlich gefüllten Regalen finden. Denn die bemitleidenswerten Schüler, die in den sanierungsbedürftigen Schulen auf der Suche nach funktionierenden Waschbecken verhungern könnten, werden hier mit kostbarer Bildung versorgt. Schulbücher, Hefte, Blöcke, Stifte in allen Farben und Formen, Buchumschläge und kreiselnde Zirkel ermöglichen das Überleben in den überfüllten Klassenräumen.


Oben gibt es abseits des Bekannten auch besondere Werke zu sehen. Große Bildbände und spezifische Literatur findet man in der ersten Etage. An der Wand hängt eine genealogische Übersicht (Stammbaum) der Familie Stein und Sitzmöbel, die so erhaben aussehen, dass man sie kaum mit der Last des unförmigen Körpers versehen möchte.


Hier werden Sie geholfen


Es soll sie ja noch geben. Menschen, die sich gerne beraten lassen. In der Stein'schen Buchhandlung kann man dieser aussterbenden Art des Einkaufens noch nachgehen. Die kompetenten Mitarbeiterinnen lesen selbst gerne mal das eine oder andere Büchlein und können dem unentschlossenen Kunden mit Empfehlungen dienen, bei der den Amazon-Algorithmen schwindelig werden würde. Zügig werden auch nicht vorrätige Bände bestellt und je nach Lust und Laune geliefert oder zur Abholung bereitgelegt. Im Normalfall kann man die Brocken am nächsten Werktag abholen. Da ist selbst Amazon nicht schneller.


Da man in so staubigen Geschäftsfeldern, wie dem Buchhandel nicht im ewigen Gestern gefangen ist, kann man als Fußgängerzonenfeind in gewohnter Weise einkaufen. Im geräumigen Internet findet man die Homepage der Stein‘schen, auf welcher man neben den üblichen Büchern auch DVD's und Spiele für unterschiedliche Konsolen finden kann.


Fazit


Wer lesen kann und in Werl lebt (mein Beileid), sollte der Stein'schen unbedingt mal einen Besuch abstatten. Und wer nicht lesen kann, hat den Quatsch hier ja auch nicht verstanden.

512 Ansichten2 Kommentare

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2 commentaires


i.schmitz02
23 févr. 2023

Ich erinnere mich gerne an die Zeit, als die Schulbücher- und Schreibabteilung im Keller war. Nahm man dort als junger Dötz mal einen Stift oder einen Radiergummi in die Hand, wurde man direkt vom weiblichen Oberhaupt der Familie Stein mit einem bösen Blick abgestraft. :-) Unvergessen....Aber ja, besucht auf jeden Fall die örtlichen Buchhandlungen

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Werler Kötte
Werler Kötte
23 févr. 2023
En réponse à

Inzwischen sieht es auch schon wieder anders aus. Also im Erdgeschoss sind die meisten Schreibwaren. Ich freue mich immer, dass dort einige lokal angehauchte Schmankerl (Werl-gestern-heute-morgen) zu finden sind.


Danke für das kurze Schwelgen ;)

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