Draußen wütet ein namentlich irrelevanter Sturm, knickt Äste, schleudert Hab und Gut durch die Gegend und ich sitze in der Höhle des Büros. Ich sehe nicht, was draußen vor sich geht, aber die Geräuschkulisse lässt vermuten, dass die Versicherungsfuzzis in der nächsten Zeit ordentlich zu tun haben werden. Doch darum soll es jetzt nicht gehen, wobei ich das Thema dieses Getippes auch nicht so eingrenzen kann, wie ich es gern würde und sonst auch immer tue.
Seit 2 Jahren sitze ich mit anderen unfreiwilligen Passagieren in einer apokalyptischen Achterbahn. Gesamtgesellschaftlich tun sich Abgründe auf, die man zwar immer befürchtet hat, aber besser ignorieren konnte. Nun tummeln sich Fremdenhasser, Holocaustverharmloser und pseudokritische Geister im sichtbaren Alltag herum und bestärken den Misanthropen in mir, der unabhängig davon bereits zu mächtig ist.
Im „Individuellen“ sieht es keinen Deut besser aus. Klar, der Tod hat seine Sense immer parat und begleitet mich seit jeher. Das ist keine Äußerung, die Tropfen des Selbstmitleids in die Wanne der Tristesse laufen lassen soll. Es ist einfach eine Feststellung. Daddy dahingeschieden als ich knapp 2 Jahre auf dem noch haarlosen Buckel hatte. Die innig geliebten Großeltern ebenfalls unter der Erde. Weitere Familienmitglieder möchte ich jetzt nicht erwähnen, sondern einfach für mich anmerken, dass Gevatter Tod kein Fremder im Hause mehr ist, vielmehr ein Stammgast, der sich immer mal wieder blicken lässt. Deshalb ist die Kaffeemaschine auch meist mit einem beladenen Filter ausgestattet. Man möchte ja vorbereitet sein.
Selbst ungeborene Menschenwesen werden vom fleißigen Kuttenträger nicht verschont. Doch man rafft sich immer wieder auf, trauert, verarbeitet, erinnert und versucht so wenig wie möglich zu vergessen. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen.
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Vor knapp 2 Jahren (ich möchte mich nicht zu sehr an der Chronologie abrackern, denn das ist so zielführend wie das ganze Geschreibe hier) bestiegen wir die Achterbahn. Mama, zu der wir eine von Ambivalenzen, Halbwahrheiten, Heimlichkeiten und Geheimnissen geprägte Beziehung unser stolzes Eigen nennen durften, erkrankte nach Hiobsbotschaft Nummer 1 (COPD- hört sich wie eine Polizeiwache in den Staaten an) an Lungenkrebs. Sie wollte es uns persönlich sagen. Ich war in der Stadt, wo ich unter Zuhilfenahme von Kaffee und köttigen Eindrücken auf dieser Tastatur herumkloppte (oder war es noch das kleine Maschinchen?). Eilig und tränenreich raste ich nach Hause, war mir unterwegs bereits bewusst, dass mal wieder ein Schwinger kommt. Mit Anlauf.
Man kann über meine Mutter Vieles sagen, aber sie hatte schon immer mehr Haare auf den Zähnen als der Yeti auf dem ganzen fiktiven Leib. Sie nahm den Kampf auf. Stationäre Chemotherapie. Port gesetzt. Körperliche Leiden, die ich nicht einmal annähernd beschreiben, geschweige denn selbst überstehen könnte, durchlebte die Frau, die mich aus ihrem Leib schneiden ließ.
Das schier unglaubliche geschah. Der Krebs war besiegt! Euphorie, Freude, Eierkuchen. Normalität machte sich breit. Hoffnung auf eine Rückkehr ins putzige Berufsleben als Reinigungskraft keimte auf. Meine Mutter konnte zwar nie gut mit Geld umgehen, vertrat oft Ansichten, die ich nichtmals im regelmäßigen Suff teilen konnte, aber putzen konnte sie. Leckomio. Wenn Putzen olympisch wäre, hätten wir eine Vitrine mit Goldmedaillen zuhause stehen gehabt. Aber Putzen ist keine Sportart, sondern ein Job, der wenig wertgeschätzt und schlecht bezahlt wird. Darum soll es hier jedoch nicht gehen. Trotz all der Differenzen, die man mit geliebten Menschen trennend teilt, war die Einigkeit im Familienverbund immer eine der Konstanten im wuseligen Dasein.
Die Nachkontrolle (bildgebende Zauberei der modernen Medizin) fand leider zeitverzögert statt. Also zu spät. Dabei wurde festgestellt, dass sich Metastasen (Ausgeburten der Hölle) im Schädel breitmachten. Also wieder in den Ring. Ambulante Chemotherapie, anschließend Bestrahlung und erneut körperliche Leiden, welche die Grenzen des Erträglichen und Zumutbaren im Galopp überschritten. Wir mitfahrenden Achterbahnfanatiker konnten nur hilflos helfend zuschauen und den flatternden Kotzbeutel halten, während ein katastrophaler Looping auf die nächste Haarnadelkurve folgte.
Das Unfassbare geschah. Erneut Sieg nach Punkten. Die sichtlich gezeichnete Frau war nur noch ein verblasster Schatten ihrer selbst, aber Sieg! Pustekuchen…
Metastasen sind wie Barney Gumble. Schmeiß sie raus und sobald du dir den Rücken kratzt, hängen sie am Bierfass und nuckeln den todbringenden Gerstensaft. An dieser Stelle hätte Rocky Balboa ein Einsehen gehabt und das vollgeblutete, ehemals weiße Handtuch geschmissen. Aber Rocky ist auch ne Mimimimose. Muttern klopfte sich den Staub von den eingefallenen Schultern und zog sich die faltigen Handschuhe über die geballten Fäuste.
Erneut Bestrahlung. Erneut ein Dahinsiechen. Körperlicher Verfall, zunehmende Auffälligkeiten in der neuronalen Abteilung, die sich der Eindringlinge kaum noch erwehren konnte. Fahrten zu Terminen. Gespräche mit weiß gekleideten Menschen. Essenz unbekannt. Denn Mama behielt schlechte Neuigkeiten für sich oder münzte fatale Nachrichten so um, dass sie Hoffnung versprachen. Gemeinsame Arzttermine wurden kurzfristig abgesagt. Streit. Belastung für eine überlastete Beziehung.
Alles gut!
Nachricht vom großen Bruder, einem lebenslangen Vorbild. Mama im Krankenhaus. Sturz. Intensivstation. Nach einem epileptischen Anfall (symptomatisch epileptisch…) stürzte sie. Orientierungslosigkeit machte sich im Kopf breit und blieb. Gehen, kaum noch möglich. Kurzzeitgedächtnis deinstalliert. Hoffnung dennoch unkaputtbar.
Leidige, unangenehme und nicht zum Kern durchdringende Gespräche. Wieder Chemo, wieder Bestrahlung. Ich verabscheue Holocaustvergleiche, dennoch kam ich nicht umhin. Meine Festplatte verglich. Viele der traumatisierenden Bilder aus den Konzentrationslagern legte ich gedanklich neben das Abbild meiner Mutter. Viele der Ermordeten sahen im Gegensatz zu ihr wie der Völlerei verfallene Fresssüchtige aus.
Selbst Äußerungen über das Unabwendbare, die bevorstehende Endgültigkeit ihres Daseins wollte sie nicht hören. Es ist alles gut. Ich kämpfe und bleibe. Nebenkriegsschauplätze bürokratischer Natur. Alles gut. Externe Hilfe? Nein, alles gut. Pflege, palliative Unterstützung, Hospiz? Nein, alles gut.
Stürze, Aussetzer bestimmen immer mehr den Alltag. Tage des Dahinschlummerns, des Dämmerns. Gedächtnislücken füllen ehemals belebte Areale der Erinnerung. Normalität hat sich verabschiedet. Medikationspläne sind auch nur Vorschläge. Selbstbestimmung unerreichbar. Fremdbestimmung nicht hinnehmbar. Ein allgegenwärtiges Schwanken, Versuche, sich gegen das Unvermeidbare aufzulehnen. Eine unbändige Kraft, die chancenlos bleibt. Ein Wille, der die Grenzen des Menschlichen schon lange Zeit überwunden hat, sich aber den Gesetzen und Regeln des Irdischen fügen muss. Die anderen Passagiere haben keinen Einfluss mehr, wenn sie ihn den je hatten.
Barney
Der Schiedsrichter zählt schon, unter unbeschreiblichen Schmerzen stemmt sie sich gegen die Niederlage. Sie rafft sich auf, hält sich an den nachgebenden Seilen fest, als Barney aus der ersten Reihe grüßt. Metastasen in den Lendenwirbeln.
Todtherapieren. Ein menschliches Gerüst, zusammengehalten von Willen und Schmerzen torkelt erneut in den Ring. Der Gong wird ignoriert. Schon wieder. Tagelanges Schlafen zeigt, was Sache ist. Doch sie will die Sache nicht sehen. Nicht einsehen und schonmal gar nicht das Handtuch werfen. Dafür wäre eh keine Kraft mehr da. Sie taumelt weiter in der Ringmitte, während sie einen Haken nach dem anderen kassiert. Aufgeben war, ist und wird nie eine Option sein.
Aufblitzende Momente der Erkenntnis werden beiseitegeschoben. Sie sind nicht zu gebrauchen, helfen nicht. Es muss weitergehen. Doch es geht nicht weiter. Es kann nicht mehr weitergehen. Nicht so und auch nicht anders.
Das Handtuch fällt
Supervision. Fachkraft für vom Gevatter verprügelte Seelen redet auf Mama ein. Auf die Stimmen der Brut darf nicht gehört werden. Jedenfalls nicht auf die Gedanken der Söhnemänner. Die Fetzen des verblichenen, verkrusteten Handtuchs liegen in der Mitte des Ringes. Abbruch. Der vom Sinn schon lange vollkommen befreite Kampf muss ein Ende haben.
Palliativabteilung. Ich muss noch zur Bestrahlung… Ich bleibe nicht lange… Leider stimmt das. Niemand ist lange geblieben. Alle wurden zu früh abgeholt und da wird auch jetzt keine Ausnahme gemacht.
Fern vom Zuhause, mitten im Schlund des endgültigen Schnitts versucht sie das Handtuch wieder aufzuheben. Hinweise des Schiedsrichters verhallen im Nichts. Wann geht es zurück? Gar nicht! Es geht immer weiter…
Verwirrter Nebel
Eine Frau, die gekämpft hat, wie ein in die Ecke gedrängter Löwe auf Steroiden liegt nur noch im Nebel der Verwirrung. Sie erkennt uns, macht Scherze und zeigt immer wieder, dass sie zwar keine Haare mehr auf der Rübe hat, aber das Fell auf den Zähnen ist geblieben. Reaktionen einer Kötte. Flotte Sprüche. Erinnerungen an längst vergessene Tage zeigen sich, verschwinden aber ebenso schnell wieder in das löchriger werdende Schaltpult im Schädel.
Erkennen ja, erinnern nein. Tägliche Besuche rinnen durch ein stetig undichteres Sieb. Mobilität war einmal. Selbst das Aufrichten im Bett ist nur an guten Tagen und unter schmerzvollen Qualen möglich. Der Löwe hat aber noch nicht genug, er will Eigenständigkeit, kann nicht von seinem Stolz ablassen. Die Folge, neuerliche Stürze, Kurzschlusshandlungen. <<Ich rauche seit 2 Jahren in dem Zimmer hier…>>
Platz im Hospiz. Nein, noch nicht… Stattdessen weitermachen. Womit? Egal, Hauptsache, es geht weiter. Gespräche nur noch in Fetzen möglich, dann ist wieder alles aus dem Sieb gelaufen.
Wieder Platz im Hospiz. Ja. Doch die Tragweite des Umzugs ist ihr offensichtlich nur in schwindenden und verschwindenden Augenblicken bewusst. Liebkosungen, Augenwasser, Krankentransport zum letzten Zuhause, das sie haben wird.
Die Mitarbeiterinnen strotzen vor Fürsorge, Verständnis und so kitschig es klingen mag, Liebe. Last verlässt die Schultern, verteilt sich aber nun auf andere Bereiche. Was kommt? Wann kommt es? Leider konnte nie alles geklärt werden, es war ja noch Zeit.
Das letzte Kapitel war doch zu lang…
Fast täglich Besuche. Vorher das obligatorische Entfernen überflüssiger Kleinhirnmasse mittels Wattestäbchen. Gemeinsames Betrachten von Fotos, dem analogen Instagram. Momente der Klarheit wechseln sich mit länger werdenden Phasen der Abspaltung. Sie ist nicht mehr ganz da, aber weit davon entfernt ganz weg zu sein. Immer wieder blitzt der alte Witz auf, die Konfrontationslust, der Wille. Zwar ist unser Gesundheitssystem an vielen Punkten veraltet, profitorientiert und weitere Punkte wären anzumerken, doch immerhin gibt es recht potente Mittelchen, um Schmerzen nicht die Überhand gewinnen zu lassen. Zudem gibt es Menschen, wie die Mitarbeiterinnen im Hospiz, welche die Situation erträglicher machten, insofern das überhaupt geht.
Der geliebte Mensch nähert sich deutlich dem Ziel an. Dem Ziel, das bis kurz vor dem Durchlaufen der Linie nicht gern gesehen, geschweige denn angesprochen wird. Man ist ihr nah. Streichelt die ausgemergelte Hülle, platziert einen Kuss auf der Stirn und jede Berührung, jeder Besuch könnte der letzte sein.
Gestern war der letzte Besuch. Heute Nacht ist ihr der Übertritt gelungen. Ist sie wieder bei dem Rest der zu früh Gegangenen? Ich denke nicht, hoffe es aber. Die Vorstellung ist schön und beruhigend. Schönheit und Beruhigung kann ich gerade gut gebrauchen. Denn jetzt beginnt die nächste Achterbahnfahrt. Teutonische Bürokratie gepaart mit traurigen und trauernden Traditionen. Dennoch habe ich die Fahrt bisher genossen. Dankbarkeit, Erleichterung, Trauer, sintflutartige Tränenausbrüche wechseln sich gerade ab.
Ich vermisse Dich, doch es geht weiter! Im Wunschdenken hocken Mama und Papa im Wohnzimmer der Großeltern. In der Realität mal wieder der ungewollte Besuch auf dem Friedhof, dem ewigen Wohnzimmer. Taschentücher? Ich pack ma ne Rolle Zewa ein 😉
Köttige Grüße ins Jenseits und bis bald!
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