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  • AutorenbildWerler Kötte

Eurobahn- Wege aus Werl

Wer fährt schon mit dem Zug? Leute, die sich kein Auto leisten können? So einfach ist es natürlich nicht. Das Reisen auf der Schiene birgt in der Theorie wahnsinnig viele Vorteile. Zunächst einmal kann sich der Reisende als Retter der Erde fühlen, denn das Sausen im gut besuchten Regionalexpress ballert bekanntlich weniger Zeugs (pro Kopf) in die Atmosphäre als das einsame Überwinden der Schallmauer auf der Autobahn. Jetzt kommt mir nicht mit Baustellen. Wenn ich mit 245 Sachen in eine verwaiste Baustelle jage, bin ich aus Gründen der Physik und Optik gar nicht in der Lage, das Tempo-80 Schild zu sehen, weshalb es logischerweise auch an Verbindlichkeit einbüßt. Ich schweife ab…


In der Theorie kann man den Weg zur Arbeit in teutonischer Weise malochend verbringen, indem man sich den glühenden Laptop auf den Schoß legt und lustige Excel-Tabellen befüllt. Außerdem kann man sich die Zeit vertreiben, Mettbrötchen und Döner genussvoll verzehren, sich auf den aktuellen Stand der Dinge bei TikTok bringen oder wütende Kommentare bei Facebook schreiben. Hinzu kommt, dass eine Fahrt im Zug herausragend zum eifrigen Betrinken geeignet ist. Sicher, beim Autobahnrasen kann ein Bierhelm ebenfalls für die nötige Flüssigkeitszufuhr sorgen, aber gewisse Gesetze setzen dem gewisse Grenzen. In der Bahn hingegen ist gepflegtes Komasaufen möglich und man kommt trotzdem ans Ziel. Also irgendwie.

Willkommen in Werl- Oder auf Wiedersehen...

In der Praxis sieht dies freilich anders aus. Einen Sitzplatz, auf dem man in Ruhe die bevorzugten Fetischpornos gucken kann, wird man vergeblich suchen. Außerdem macht das schwankende Mobilfunknetz das Pendeln per Zug zu einer Achterbahnfahrt, bei der man in Windeseile von E über LTE und 5G im Mittelalter landet, wo man sich ein Nokia 3330 mit Snake herbeiwünscht. Wenn man sich dann auf dem Weg in den Bierkönig ein Sixpack Faxe reingekippt hat, muss die Plörre irgendwohin. Gut, dass es Toiletten gibt. Schlecht, dass andere Menschen diese ebenfalls benutzen. Den Rest kann man sich denken. Über die olfaktorisch grenzwertigen Ausdünstungen der anderen Fahrgäste, obligatorische Verspätungen und die zuverlässige Unzuverlässigkeit der klimatisierenden Gerätschaften fangen wir gar nicht erst an, sonst wandeln wir zu sehr auf den ausgetretenen Pfaden der deutschen Comedytradition. Schließlich sind wir hier bei der Kötte und wollen wenigstens wenige Zeilen dem eigentlichen Thema widmen.


Ich verstehe nur Bahnhof


Der deutsche Bahnhof ist ein erhabenes Kulturgut. In größeren Städten gilt dieser Ort als heißes Pflaster. Hier werden Drogen vertickt, Leute verkloppt und Spritzen mit liebevoll aufgewärmten Substanzen befüllt. In Werl sieht es noch nicht ganz so dramatisch aus, doch als Wohlfühloase geht der Bahnhof sicher nicht durch. Schließlich hat sich selbst der Soester Anzeiger schon ausführlich mit dem Thema beschäftigt und dabei ging es nicht um Performancekunst oder Veranstaltungen im Kultur- und Eventzentrum.


Wer in Werl ein Schienentaxi besteigen möchte, muss erst einmal den Vorplatz überwinden. Ein Busbahnhof, der hauptsächlich von Schülern genutzt wird, nimmt die meiste Fläche in Anspruch. Vor vereinzelten Taxen (ja, man darf auch Taxis schreiben) warten rauchende Gestalten vergeblich auf Kundschaft. Auf der Anzeigetafel herrscht gähnende Leere, soll sich der Bodensatz öffentlichen Verkehrs gefälligst per App oder Brieftaube über die heutigen Verspätungen informieren. Der Aufzug wiederum stellt das Glücksspiel der Personenbeförderung dar. Funktioniert das Teil? Und falls ja, möchte man sich dort hineinwagen? Der Weg zum Gleis ist ohnehin nichts für empfindliche Gemüter. Um dorthin zu gelangen, muss man Treppen hinab- und wieder hinaufsteigen, was an sich kein großes Problem sein sollte. Ha! Falsch gedacht!


Der kleinste Escape Room Werls

Die Wände wurden von lokalen Künstlern in der üblichen Weise gestaltet. Dahingeschmierte Tags, Pimmelvariationen und eilig hingerotzte Kleinkunst prägen die Fliesen und Fassaden. Beim Passieren der Stufen und des dazugehörenden Ganges empfehlen Experten das Anhalten der Luft, damit man nicht plötzlich das Bewusstsein verliert. Denn die Eindrücke decken ein mannigfaltiges Spektrum ab. Je nachdem, wer sich vorher in dem Bereich eingefunden hat, können folgende Abgründe menschlichen Verhaltens zu entdecken sein. Eine olfaktorische Kakophonie körperlicher Ausscheidungen, die sich aus abgestandenem Urin und Erbrochenem zusammensetzt. Wer Werl kennt, weiß, dass sich zu diesen Faktoren noch die ortstypische Dekoration mit Abfällen aller Art gesellt. Halb aufgefutterte Döner, Reste diverser Industriefraßvariationen in den robusten Plastikverpackungen, Scherbenhaufen mit Restfusel und alles, was man so wegwerfen kann. Diese dekorativen Elemente fügen dem olfaktorischen Charme ein variables Aroma hinzu, das man sonst nur von öffentlichen Toiletten kennt. Jochen Schweitzer erwägt, einen mehrtägigen Aufenthalt in der kleinen Unterführung als Survival-Adrenalinerlebnis in sein Angebot aufzunehmen.


Es fährt ein Zug nach Irgendwo


Brechreiz erfolgreich unterdrückt? Respekt. Nun ist die Flucht aus Werl nicht mehr fern. Auf dem Gleis wird dem aufmerksamen Auge einiges geboten. Neben den obligatorisch neben den Mülleimern platzierten Abfällen, zieht vor allem der fragmentarische Schriftzug „Werl“ die Blicke kunstaffiner Kötten auf sich. Einer kariösen Kauleiste gleichend, ziert es die Fassade. Bildhauer aus Konstantinopel haben aus der ursprünglichen Buchstabenkombination dieses Kunstwerk geschaffen.



Doch genug Sightseeing, wir wollen ja weg hier. Doch wohin? Die Eurobahn fährt in 2 Richtungen. Entweder man gleitet geschwind gen Soest oder nach Dortmund. Soest bietet dem Lokaltouristen eine ansehnliche Altstadt, mittelalterliche Festspiele und vor allem die berühmt, wenn nicht sogar berüchtigte Allerheiligenkirmes. Sie stellt das unoriginelle Pendant zur Werler Michaeliskirmes dar. Weil man den lieblosen Abklatsch nicht nüchtern übersteht, wird eben die Eurobahn genutzt.


Entgegengesetzt geht es nach Dortmund. Besonders an Spieltagen des bekannten Fußballvereins (nein, nicht VFL Hörde) ist die Haltestelle am Westfalenstadion (wieder nein, ich weigere mich, Werbung für Versicherungsfuzzis zu machen) stark frequentiert. Horden von alkoholisierten Kerlen in schwarz-gelb machen den Zug dann zu einer lärmenden Sardinenbüchse. Doch dieses Thema verdient und benötigt einen eigenen Bericht, denn sonst schweifen wir schon wieder ab…


An Spieltagen der Borussen ist das Fahren besonders besonders.

Werl hat nicht mehr die Kneipendichte, die zu Besatzungszeiten hektoliterweise Gerstensaft ausgeschenkt haben. Auch das Partyangebot ist im Vergleich zu vergangenen Tagen deutlich geschrumpft. Klar, man kann im Kraftwerk wie ein Beschmierter auf der Tanzfläche rumhopsen, während man seine Verzehrkarte sucht, aber das Angebot hält sich eben in recht eng gefassten Grenzen. Daher ist die Möglichkeit, per Zug ins Herz des Ruhrpotts zu juckeln ein netter Umstand.


Genug davon, auf ins Gefecht!


Letzter Halt Einnässen


Endlich haben wir das schier endlose Vorgeplänkel hinter uns und können die Reise antreten. Da ein Zug ausgefallen war und sein Nachfolger an jeder Schranke halten musste, damit der Lokführer diese manuell bedienen konnte, hatten wir aber auch etwas Zeit.


Die Limousine der Geringverdiener

Die Eurobahn ist in der Theorie ein luxuriöses Gefährt. Nachdem der Koloss zum Stehen gekommen ist, fängt ein Knopf grün blickend mit dem Gepiepe an. Das Piepen begleitet das futuristisch anmutende Öffnen der Fahrzeugtüren. Hinaus steigen Menschen, denen man ansieht, dass der Zenit hinter ihnen liegt. Sie müssen das bequeme Innere verlassen und in Werl raus. Empathisch klopfen wir ihnen auf die Schultern, versuchen Trost zu spenden und nehmen ihre Plätze ein.


Wer keine Lust auf 60 Tacken Strafe oder Ersatzhaft hat, muss sich ein gültiges Ticket besorgen. In Werl gibt es noch einen Schalter, an dem man von echt lebendigen Menschen bedient, beraten und mit papiernen Fahrscheinen versorgt wird. Trotz bequemer Möglichkeiten, dies per Handy zu erledigen, halte ich die Existenz der Anlaufstelle für eine durchweg gute Sache. Sicher, momentan gibt es das 49-Euro Ticket, aber im Normalfall ist die Planung von Reiserouten in Verbindung mit dem bestmöglichen Preis im undurchdringlichen Tarifdschungel reine Glückssache, wenn man sich nicht etwas mit der Materie auskennt.


Benutzung auf eigene Gefahr

Gutes Personal ist rar und teuer, daher gibt es im Inneren der Eurobahn einen Automaten, an dem man sich für die Fahrt legitimieren kann. Leider hat die Technik ihre Tücken. Der schmierige Bildschirm dürfte mit allen der Menschheit bekannten und noch unbekannten Keimen, Bakterien und Abscheulichkeiten kontaminiert sein, doch das hält einen Werler nicht auf. Allerdings reagiert die berührungssensible Mattscheibe in etwa so zeitverzögert, wie ein Rechner mit Windows 95, der trotz 82 Pop-Ups gerade ein Youtube-Video abspielt, während die Extended Edition der Herr der Ringe-Trilogie heruntergeladen wird. Dennoch sehr praktisch so ein Automat, der nicht gewerkschaftlich organisiert ist.


Die Sitze in der Eurobahn wirken ein wenig wie der Fiebertraum eines Comicdesigners aus den 90ern, sind aber bequem genug, um die Strecke bis Dortmund ohne bleibende Schäden an der Wirbelsäule zu überstehen. Steckdosen stehen den Leuten ebenfalls zur Verfügung, die zu blöd zum Laden ihrer Geräte sind. Oder jede Möglichkeit zum Sparen nutzen wollen.


In die kleinen Mülleimerchen passt nicht viel rein, aber wer Pfand nicht ehrt, ist das Werler Tröpfchen nicht wert oder so ähnlich. Also steckt man die geleerten Pullen und Dosen in den mitgebrachten Pfandbeutel. Problematisch wird es lediglich, wenn die Aufnahmekapazität der Blase an ihre Grenzen stößt. Denn die Toiletten sind zwar geräumig und vergleichsweise luxuriös, aber, ne ABER die Mitreisenden veranstalten darin anscheinend regelmäßig Experimente, um herauszufinden, wie schnell man sanitäre Anlagen unbrauchbar machen kann. Jedenfalls ist es schon oft vorgekommen, dass beide WCs dauerhaft außer Betrieb waren. Gut, wenn man die Faxe-Dosen dabeihat, in denen immerhin ein Liter Platz findet.

Doch genug rumgejammert. Schließlich ist dieses Geschreibe schon jetzt elendig lang. Wird also langsam Zeit, den Quatsch zu beenden.


Einfach eine große Steckleiste anschließen und alles aufladen, was man hat.

Fazit


Die Ausgangssituation für Werler, die weg oder wieder zurück nach Hause wollen, könnte schlechter sein. Zweimal stündlich fährt die Bahn gen Soest oder eben Dortmund. Jedenfalls, wenn nicht gerade so große Personalnot herrschen würde. Dumme, beleidigende oder überflüssige Kommentare bei Facebook gibt es hingegen immer mehr als genug. Aber mit denen kommt man eben nicht von Werl nach Dortmund-Aplerbeck.


Der Zustand des Bahnhofs ist gemeinhin bekannt und selbst ich kann ihn nicht beschönigen. Okay, woanders ist auch scheiße, aber dennoch zeigen sich menschliche Abgründe hier regelmäßig. Ich persönlich fahre gerne mit dem Zug und die Vor- und Nachteile bedürfen keiner ausführlichen Erklärung. Wer es noch nicht selbst ausprobiert hat, sollte es mal auf einen Versuch ankommen lassen. Die erste Fahrt mit der RB59 bitte nach Möglichkeit nicht auf ein Heimspiel des BVB legen. Warum das so ist? Damit befassen wir uns rechtzeitig vor Wiederbeginn des stümpernden Gekickes in der Bundesliga.

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