Du bist Werler, wenn… Diesen ehrfurchterzeugenden Satz kann man in schier unendlichen Variationen fortsetzen, was in einer Facebookgruppe auch eifrig betrieben wird. Wir schließen uns dieser neumodischen Erscheinung an und geben mal einige verifizierte Beispiele:
…, wenn du in einer grammatikalisch fragwürdigen Gruppe („Werler helfen Werler“) Fotos von unverpixelten Bankkarten postest, statt sie zur entsprechenden Filiale zu bringen.
…, wenn du schon einmal in den Salzbach/die Saline/den Kurparkteich gekotzt hast.
…, wenn du dich bei Kostas mächtig überfressen hast.
…, wenn du während einer austauschbaren Veranstaltung auf dem Marktplatz zu zweifelhafter Livemusik das ungelenke Tanzbein geschwungen hast.
…, wenn „Kötte“ in deinem aktiven Wortschatz auftaucht.
Ganze Trilogien epischer Machart könnte man mit der Fortsetzung dieses Konditionalsatzes füllen, doch heute soll es um eine andere Werler Eigenart gehen. Denn du bist Werler, wenn du im antiken Mariannen-Hospital das gleißende Licht der Welt erblickt hast oder…
Schnadegang- watt is das eigentlich?
Wir reisen in eine Zeit, als es keine Smartphones, Autos, Döner, fließendes Wasser und IKEA gab. Die weiten Flächen des Landes waren von natürlichen Grenzen durchzogen. Bäche, mit Exkrementen verfeinerte Flüsse, Wälder und hügelige Berge. Wo die Natur sich nicht um derartige Barrieren kümmerte, wurden Grenz-/Schnadesteine gesetzt. Schnade heißt so viel, wie der Grenzschnitt zwischen 2 Grundstücken. Die Kenntnis der Grenzen hatte eine hohe Bedeutung, denn die Zuteilung von Weiden, Jagdgebieten und Zuständigkeiten der Kurfürsten und anderer erlauchter Herrscher wurde dadurch ersichtlich. Heute sind Grenzen für Zöllner, Verteidiger des Abendlandes und Schmuggler von Bedeutung.
Wer in den Zeiten ohne Instagram, StudiVZ und Wikipedia die bestehenden Grenzen verletzte, wurde hart bestraft. U.a. wurden die Ignoranten bis zum Halse eingebuddelt und von Gespannen überfahren. Jedenfalls war dies eine der Strafen, die dem Übeltäter theoretisch blühten.
Damit die nächste Generation genau über die Grenzen Bescheid wusste, wurden die Steine regelmäßig aufgesucht, was natürlich mit den typisch deutschen Handlungen einherging. Man hat sich besoffen und den Kindern ordentlich aufs Maul gegeben, um sicherzustellen, dass sie die Orte der Schnadesteine nicht vergessen.
Nach und nach geriet die Bedeutung dieser Tradition in Vergessenheit, da Katasterverwaltung, GPS, nicht zusammenfaltbare Landkarten und google maps diesen Ritus überflüssig machten. Erst die Heimatvereine haben den Brauch wiederentdeckt.
Wie bei vielen Traditionen, die in der Gegenwart aufrechterhalten werden, spielt der ursprüngliche Hintergrund eher eine hintergründige Rolle. Im Vordergrund steht das volksfestähnliche Spektakel, bei welchem der Verzehr einfacher Speisen mit dem Getrinke gerstigen Saftes verbunden wird.
Schnadegang today- Gegenwärtiges und selbst Erlebtes
Nach dem kleinen Exkurs in die düsteren Zeiten, wollen wir uns nun der aktuellen Bedeutung der putzigen Tradition zuwenden. Schließlich durfte ich im Jahre 2019 selbst als Begleiter an einem Schnadegang teilnehmen, als sich Össibob Anquatschkopf taufen ließ. Er war es leid, den Geist Werls zu verkörpern, aber auf dem Papier keine Kötte zu sein.
Zum Schnadegang kann man sich eigeninitiativ anmelden, wenn man den Makel des „Nicht-Werler-seins“ ablegen möchte. Neubürger/ Zugezogene erhalten vom Bürgermeister eine schriftliche Einladung zu dem Spektakel. In der Regel findet die Tradition am letzten Samstag der Michaeliswoche statt.
Im Kurpark treffen sich alle Teilnehmer, Interessierte und warten auf das Hornsignal. Nach diesem wird „Schnad ab!“ gebrüllt und die Meute setzt sich in Bewegung. Per Fußmarsch geht es für den Trupp dann los und man versucht einen der Grenzsteine (u.a. in Mawicke, Hilbeck, Holtum) zu erreichen.
2019 sollte der Holtumer Stein begutachtet werden, weshalb das erste Etappenziel das blau-weiße Büderich war. Die bunt gemischte Wanderbande folgte dem ortskundigen Reiseführer und tankte derweil ordentlich Sprit, um die ungewohnten Anforderungen des eigenständigen Gehens unfallfrei bewerkstelligen zu können. Als Neuankömmling in der Köttenstadt kann man bei dieser Veranstaltung schon einige Kontakte zu den Eingeborenen knüpfen und unverfänglichen Smalltalk führen.
„Kehr wat willste hier in Werl?!“ „Ich habe einen Job bei Kettler bekommen“ „Biste nicht mehr ganz dicht oder watt? Die gehen doch pleite!“ „Nein, ich bin für die Finanzen verantwortlich und werde mich zeitnah einarbeiten.“ „Hier, guck dir die Bank am Teich an. Da sitzte in einem Jahr und säufst schon morgens nen Kasten Billigbier wech.“
Könnte natürlich auch anders ablaufen, so ein Abtasten und Kennenlernen der neuen Mitbürger. „Hallo. Leben Sie schon lange hier in Werl? Ich freue mich sehr auf unsere Zukunft im Norden der Stadt.“ „Redest du mit mir?! Kehr, machn Abflug! Jetzt geh mir aus dem Weg, ich muss pissen!“
Doch genug der spekulativen Träumerei, zurück auf die Piste!
Hinter der vagabundierenden Wandertruppe fuhr ein Fahrzeug des Deutschen Roten Kreuzes, um im Fall der Fälle eingreifen zu können.
Die Altersstruktur der umherziehenden Schnadegänger bewegte sich zwar eher im Bereich der Frührente, doch wurde diese von unserer Kötten-Horde merklich gedrückt. Der Weg zum ersten Etappenziel in Bujecke fühlte sich wie eine entschleunigte und gemütlichere Variante einer Maiwanderung an. Man genoss die prachtvollen Aussichten auf kunstvoll hergerichtete Autobahnbrücken und ignorierte die hupenden Autofahrer, während man die gesamte Straßenbreite beim Verzehr des Wegbieres für sich beanspruchte. Zwischendurch besprenkelte man wucherndes Unkraut und wilde Büsche mit wässrigem Urin und freute sich auf die erste Pause.
Etappenziel Schützenhalle- Was man da wohl macht?!
Nach der ungewohnten Anstrengung, die durch den Marsch aufgebracht wurde, war eine Pause lebensnotwendig und dafür hat der liebe Gott ja an jede Straßenecke eine Schützenhalle hingestellt.
An der legendären Kuniberthalle in Büderich wurde ein kleiner Pit-Stop eingelegt. Wie es sich für eine Schützenhalle gehörte, gab es gekühlten Gerstensaft und kleine Snacks, damit der Endspurt nach Holtum erfolgreich gestaltet werden konnte. Ein paar Erinnerungsfotos, der Besuch einer richtigen Toilette und ein bis zwei Schächtelchen Zigarettchen später ging es dann auch schon weiter.
Pohläsen- oder die Werler Taufe
Endlich wurde der frisch hergerichtete Grenzstein schweißgetränkt erreicht. Die Zeremonie konnte beginnen. Um hochoffiziell als Werler bezeichnet werden zu dürfen, muss man sich dem sogenannten Pohläsen unterziehen. Hört sich merkwürdig an und ist es auch. Die Prozedur läuft folgendermaßen ab:
4 Avantgardisten ziehen den Neubürger dreimalig über den mit Korn besprenkelten Stein. Im Anschluss erhalten die Malträtierten eine Urkunde.
Nach der Tortur wollte der Bürgermeister unbedingt noch ein Foto mit den Neuwerlern machen. Anschließend ging es zur nächstgelegenen Schützenhalle, die in Holtum ja auch nicht weit entfernt lag.
Dort wurde dann in traditioneller Weise weitergepichelt und Erbsensuppe in die Schlünder geschaufelt. Nachdem man sich auf einen für Werler Verhältnisse angemessenen Pegel gesoffen hatte, ging es auf den leicht schlangenlinienförmigen Rückweg, wo weitere Erinnerungsfotos an den wichtigsten Tag nach dem ersten Schützenfestbesuch geknipst wurden.
Gleichbehandlungsgesetz
Im Jahr 2005 wurde seitens der EU das „Gleichbehandlungsgesetz“ verabschiedet, welches allerdings an der Lebensrealität nur subtile und kaum spürbare Veränderungen nach sich gezogen hat. Die Diskrepanzen bezüglich Entlohnung, Anerkennung und der verfestigten Rollenproblematik haben sich seitdem nur in Nuancen bewegt oder bei einigen Zeitgenossen weiter verfestigt. Doch wollen wir uns dieser komplexen Thematik nicht tiefergehend widmen, dazu reichen weder die kognitiven Kompetenzen noch die Zeit. Überlassen wir derartig heikle Themen lieber den Experten vom Anzeiger.
Dennoch hat das Gesetz Auswirkungen auf den Schnadegang. Denn bis zum Jahr 2005 war es den weiblichen Teilnehmern freigestellt, ob sie über den Stein gezogen werden oder einen Korn in ihre Schuhe gekippt haben wollten. Nun bleibt ihnen keine Wahl mehr.
Abschließende Abschlussbemerkung:
Lasst es euch nicht entgehen. Nette Kötten, frische Luft, bisschen Bewegung, ordentlich was auf den Teller und ins Glas. Was will man mehr?! Also Wanderschuhe an und ab in den Kurpark!
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