Wer aufmerksam durch die Welt geht, bekommt so einiges zu sehen. Und tritt nicht in Hundefäkalien. Wer aufmerksam durch Werl geht, bekommt ebenfalls viel geboten. Unsachgemäß entsorgte Häuflein frischen Unrates findet man immer wieder. Besonders in der Nähe von Mülltonnen zeigen Leute gerne die eingeschränkte Funktion der Hand-Auge-Koordination. Sie sollten sich mehr mit Videospielen befassen, dann würde sich beizeiten eine angemessene Treffsicherheit einstellen. Oder es liegt daran, dass es ihnen einfach egal ist. So oder so, es geht mir gehörig auf den haarigen Sack. Werl hat nämlich mehr zu bieten als Müll, schließlich sind wir hier nicht in Schmuddelfing.
In etlichen Beiträgen habe ich die ambivalente Ambivalenz der Köttenstadt thematisiert. Letztlich treibe ich mich gerne am Ort herum, an dem ich das gleißende Licht der Welt erblickt habe. Bei den regelmäßigen Besuchen gibt es allerlei zu entdecken. Daher schauen wir heute aufs Kleingedruckte bzw. die Erzeugnisse von Straßenphilosophen.
Der Edding ist mächtiger als das Schwert
Menschen hatten schon immer ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis, welches sich in mannigfaltigen Weisen seinen wirren Weg bahnte. Unsere Vorfahren beschmierten die Höhlenwände mit allerlei kryptischen Kunstwerken, denn Rauhfasertapete stand ihnen noch nicht zur Verfügung. Heute toben sich irgendwelche Irre in Facebookkommentaren aus, wo sie sich darüber beklagen nichts mehr sagen zu dürfen, indem sie genau das sagen, was man ja nicht mehr sagen darf. Klingt psychotisch und ist es auch. Andere sitzen im Café und schaffen es, ihre messerscharf durchdachten Gedankengänge in einer Lautstärke kundzutun, die ein Weghören unmöglich machen. Die Möglichkeiten sind inzwischen grenzenlos, doch nichts schlägt die klassische Herangehensweise, die handwerkliches Geschick erfordert.
Fassaden, Laternen, hölzerne Hütten
Nun begeben wir uns in einen kritischen Bereich, denn die Rechtslage ist eindeutig. Das Beschmieren von Gegenständen ist eine schandhafte Schandtat, eine kriminelle Kriminalität und nicht nett. Wir Deutschen mögen es, Taten und Handlungen in eindeutige Kategorien einzuordnen. Entweder etwas ist schwarz oder weiß. Dabei wird allzu gern außer Acht gelassen, dass es aufregend spannende Beigetöne gibt. Oder opulente Ockerfarben.
Das hier soll weder eine Legitimierung kritzelnder Krimineller noch eine Verteufelung vandalierender Künstler sein. Dass Menschen sich im öffentlichen Raum verewigen, war schon immer so, und es wird sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern. Menschen tun ihre Meinung kund, weisen auf Missstände hin (manchmal auf Missstände in ihrem eigenen neuronalen Netzwerk), wollen inspirieren oder einfach Schaden anrichten. Gründe, den Edding aus der Tasche zu ziehen, gibt es mehr als genug. Wenn ich im öffentlichen Raum dahingeschmierte Worte, Sätze und Tags sehe, löst es in mir höchst unterschiedliche emotionale Reaktionen aus. Wut, Belustigung, Nachdenklichkeit, Entsetzen, Aggressionen, Zustimmung und alles dazwischen und außerhalb. Letztlich sind die überall zu entdeckenden Weisheiten nichts anderes als Spuren menschlicher Existenz. Dasselbe gilt für die Kunstwerke in angesehenen Museen, wie auch für den Penner, der seine Rostlaube auf den Behindertenparkplatz beim Physiotherapeuten stellt. Menschliche Existenz meint nämlich nicht nur die so selten erreichten Höhen, sondern besonders die Untiefen der egoistischen Rücksichtslosigkeit. Ich störe mich jedenfalls weniger an ein paar kurzen Zeilen, wenn sie an subtilen Orten und in dezenter Weise aufgetragen wurden. Das flächige Bepinseln von Fassaden ist jetzt nicht das Medium meiner Wahl.
Schweigen ist Reden, Silber ist Gold
Um die Spur der lokalen Straßenphilosophie aufzunehmen, schauen wir uns mal einige konkrete Beispiele an und versuchen, zu ergründen, was uns die wirren Weisen eigentlich mitteilen wollen.
Einige eddingschwingende Erleuchtete betreiben mit ihren Werken aktive Lebenshilfe. Sie sprechen den Rezipienten direkt an, packen ihm am Schlawittchen, hinterfragen dessen schnöde Existenz, fordern zum Handeln auf.
„Schweigen ist Reden, Silber ist Gold“ Jedes Sprichwort, das aus seiner ursprünglichen Form gebracht wird, ist sprachliches Gold. Soll es bedeuten, dass menschliches Handeln vollkommen irrelevant ist? Materielle Güter austauschbar und in ihrem Wert lediglich subjektiver Schein? Macht es einen Unterschied, ob wir unsere Stimmbänder bemühen, oder nicht? Oftmals denke ich mir, dass die Schonung selbiger sinnvoller erscheint, als die zermürbenden Versuche, die eigenen Gedankengänge irgendwie verständlich zu machen. In diesen 6 Worten steckt in etwa so viel Interpretationsspielraum wie in Goethes Gesamtwerk, ist aber schneller gelesen.
„Die reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu belassen und hoffen, dass sich was aendert.“ Lecko mio. Da fährt aber jemand schweres Geschütz auf. Dennoch trifft er die menschliche Natur, wie ein Scharfschütze. Dabei handelt es sich allerdings um ein Plagiat, denn das Zitat wurde nicht korrekt angegeben. Der Ausspruch stammt nicht von Mario Barth und auch Til Schweiger hat nix damit zu tun.
„Los. Tu es! Was hält dich auf?“ Eine recht simpel erscheinende Formulierung im Imperativ, der eine offensichtlich rhetorische Frage angehängt wurde. Was der Rezipient daraus macht, hängt von etlichen Faktoren ab. Ist der Betrachter ein Suizidaler, der soeben von seiner fristlosen Kündigung erfahren hat oder ein gewitzter Gauner mit einer herausragenden Geschäftsidee. Das war aber ganz schön makaber und nicht lustig. Japp, auch meine Erzeugnisse sind eben Ausdruck menschlicher Existenz und eher den Untiefen gewidmet.
„Reden kann jeder… Machen ist Kunst!“ Bei diesem Werk handelt es sich auch durch das gewählte Medium um eine raffinierte Besonderheit. Die Künstlerin oder der Künstler hat sich für die Form des beschrifteten Aufklebers entschieden, wodurch die verzierte Mülltonne rückstandslos gesäubert werden, die Spuren des Vandalismus ohne große Kosten beseitigt werden können. Denn so eine Mülltonne ist ja kaum noch zu gebrauchen, wenn da was draufgekritzelt wurde. In einem Punkt muss dem anonymen Künstler allerdings vehement widersprochen werden. Reden kann sicherlich nicht jeder.
„Last das Leben Euch nich veränden Verändert Lieber Das Leben“ Da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll. Hätte der Schreiberling „verenden“ geschrieben, wäre dem Vers noch eine weitere Interpretationsebene hinzugefügt worden. So bleibt es ein Kalenderspruch, der durch seinen Ausstellungsort (düstere Tiefgarage) und die kreative Handhabe der Rechtschreibung eine kontrastreiche Aufladung erhält. Ist es eine plakative Kritik an den ideologischen Rechtschreibvorschriften der konservativen Parteien? Soll es zeigen, dass Verständnis letztlich nicht von einigen korrekt gesetzten Buchstaben abhängig ist? Diese Fragen kann nur der Stiftakrobat selbst beantworten, wenn er sich denn jemals aus der Tiefgarage herauswagt.
„Wohnen hier auch Normale?“ Hier werden die großen Fragen aufgeworfen, mit denen sich bereits Plato und Aristoteles befasst haben. Was macht den Menschen aus? Was ist besonders an ihm? Wann ist er normal? Die Antwort variiert, je nachdem, wie einzelne Faktoren gewichtet werden. Zu gewissen Zeiten war es normal, seine Kinder zu verkloppen, wenn die sich an das Formulieren eigener Gedanken gewagt haben. Viele sehnen sich nach diesen Tagen zurück. Oder ist diese Frage konkreter zu interpretieren? Hat sich ein Neuankömmling in der Werler City herumgetrieben und wollte sein schieres Staunen mit dieser Frage zum Ausdruck bringen? Auch das werden wir wohl nie erfahren. Dennoch ist wildes Spekulieren immer erwünscht. So funktioniert das menschliche Dasein bekanntlich. Je weniger wir wissen, umso lauter keifen wir herum.
Und was soll das jetzt? Alle einsperren!
Einige Beispiele haben wir uns nun näher angeschaut, doch ändert das ja wohl nix, aber auch rein gar nix daran, dass diesen sachbeschädigenden Schmierfinken das halunkenhafte Handwerk gelegt werden muss. Dem möchte ich auch gar nicht widersprechen, so weit kommt es noch!
Im Sinne der Gerechtigkeit solltet ihr alle die Augen aufhalten und verdächtige Leute direkt freundlich ansprechen. „Ey du Gauner! Was treibste da?!“ „Pack den Stift weg, sonst pack ich dich weg!“ Oder auch „Hurensohn schreibt man nicht so!“ Denn man sollte sich auch mit Verständnis und Hilfestellungen begegnen.
Auch wenn man nicht in irgendeiner Strafverfolgungsbehörde tätig ist, lohnt es sich, den Blick mal schweifen zu lassen. Manchmal sind es kleine, sehr nette Zeilen. Manchmal werfen sie Fragen auf. Manchmal regen sie zum Nachdenken an. Manchmal regen sie einfach auf. Manchmal erzeugen sie eben ein kleines Schmunzeln. Solltet ihr mal ein Prachtstück der Pöbelphilosophie erspähen, knipst ein Beweisfoto und faxt es uns zu. Das wäre nett. Wir leiten dann direkt an Richard David Precht weiter, der aus den Zusendungen sicher einen Bestseller basteln wird 😉
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